„Dich kriegen wir
auch noch.“
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„Ich empfing ihre Schläge in dem klebrigen Gefühl absoluter Hingabe. Der Schmerz weichte mich auf, und das war gut so, ich befand mich an einem Ort, wo ich mich für nichts mehr entscheiden musste. Meine Poren atmeten die Kälte des Universums aus, die Kälte des Essigbaums, und ich dachte: Ich liebe dich.“ (Angelika Klüssendorf, Risse, S. 102)
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Kein Entrinnen gibt es für die junge Ausreißerin, die wegläuft vor der Bindung zu den Eltern, einem Zuviel an Nähe. Das erzählerische Werk der Schriftstellerin Angelika Klüssendorf ist erschütternd. Zweimal war sie auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis, und zweimal schaffte sie es auf die Shortlist. Auch der autobiographische Roman Risse war eines der nominierten Werke. Nüchtern, mutig und offen schreibt Klüssendorf in einer Art Tagebuchform über eine bittere Jugend. In einem sachlichen, nie verbitterten Ton schafft die heute 65-Jährige kühle Bilder ohne anzuklagen:
„Die Scham über die Armut war meine eigentliche Kleidung. Doch es war nicht nur die Armut, mein Vater pisste ins Waschbecken, obwohl andere Väter es auch schafften, die Toilette auf halber Treppe, zu benutzen. Es stank in der Küche, und dieser Geruch schien an mir zu haften, wenn ich auf die Straße ging. Ich war daran gewöhnt, dass mein kurzes Haar, obwohl ordentlich gekämmt, schmutzig war; und doch gab es Blicke, die sich mir einbrannten, wenn etwa die Mutter einer Schulkameradin mich an der Tür abfertigte, ihre Tochter sei nicht zu Hause (S. 70)
Die zu Anfang kleine, später jugendliche Protagonistin in Risse erscheint in der DDR in den 60ern und 70ern ohne Halt. Die Eltern leben in Armut, sind überfordert, lebensuntüchtig und lieblos. Bei ihnen erscheint die Nähe zum Kind nie wirklich ehrlich gemeint und stets auch mit Schikane verbunden, wenn sie die Protagonistin nicht nur psychisch quälen. Die Eltern trennen sich bald. Zu Anfang gibt es da das Bild eines Kirschbaums als eine Art Rückzugsort, mit dem die Protagonistin zärtlich ein Bild ihrer Großmutter verbindet. Doch ein Kirschbaum wird nur bis zu sechzig Jahre alt. Auch die Großmutter, die dem kleinen Mädchen anfangs noch vorliest, stirbt früh.
Als junge Erwachsene ist die Ich-Erzählerin, die anfangs oft in der dritten Person als „sie“ betrachtet wird, weiterhin Grausamkeiten ihrer Mitmenschen ausgeliefert. Im fortgeschrittenen Alter fragt sie sich:
„Wem will ich was beweisen? Ich bin die, die ich bin, keine andere.“ (S. 71)
Es keimen Verantwortungsgefühle auf, etwa wenn die Erzählerin an ihre jüngere Schwester denkt. Später beobachtet sie bewegt in der Rolle einer Erzieherin, wie einer ihrer aufrührerischen Schützlinge ähnliche Gefühle für eine jüngere Schwester hegt. Klüssendorf, die mit FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher verheiratet war und selbst zwei Kinder hat, schafft in Risse auch immer wieder stimmungsvolle und berührende Bilder des Rückzugs:
„Es hat mir in der Kindheit geholfen, den Ort des Schreckens zu verlassen, mich nicht auszuliefern, kein Opfer zu werden. Es hat mich wunderbare Welten entdecken lassen, ich schlief im Wald, begann, anders zu sehen, zu riechen und zu schmecken. Glücksgefühle, Gegenwart. Es hat mir Angst genommen.“ (S. 81)
Ansgar Skoda - 14. Mai 2024 ID 14747
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