Die Geburt
des Unheils
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Hulda Gold arbeitet 1922 als Hebamme in Berlin: „Innerlich seufzte Hulda. Manchmal schien es ihr, dass die Frauen selbst schuld waren an ihrer Knechtschaft, wenn sie finanzielle Unabhängigkeit nicht als Chance, sondern als Schande betrachteten.“ (S. 157). Mit 26 Jahren ist sie noch unverheiratet und gilt als spätes Mädchen, doch durch ihren Beruf bekommt sie mit, dass Ehe und Schwangerschaften das Ende der Selbstbestimmung sind. Als Frau hat sie erst vor wenigen Jahren nach dem Großen Krieg das Wahlrecht erhalten, aber als Ehefrau wäre sie ihrem Mann untergeordnet und dürfte ohne dessen Erlaubnis nicht arbeiten. Aus diesem Grund meidet sie Männer, obwohl sie recht attraktiv ist und dem anderen Geschlecht durchaus zugetan. Sie besucht Frauen aus allen Schichten, auch die Schwangeren in den Elendsvierteln, in den vielen Hinterhöfen, in denen es weder Luft noch Licht gibt, aber Unrat, Gestank, Schmutz, Hunger und Armut. Sie tut ihr Bestes, weil sie glaubt, dass auch diese Familien und Kinder ein Recht auf Unterstützung haben, wenngleich die Kinder in eine Welt der Hoffnungslosigkeit und des Elends geboren werden.
Die deutsche Literaturwissenschaftlerin Anne Stern hat mit Fräulein Gold – Schatten und Licht eine Trilogie um die Berliner Hebamme Hulda Gold begonnen, die in der Hauptstadt angesiedelt ist. Das Berlin der 1920er Jahre ist eine quirlige Metropole mit einem schillernden Nachtleben, das im Gegensatz zum Nachkriegselend und den politischen Unruhen der Zeit steht. Die Rechten sind auf dem Vormarsch, die viele als Schlägertrupps abtun und in ihr noch keine Gefahr sehen, aber das rechte Gedankengut hat in der unruhigen Zeit einen guten Nährboden. Die Linken sind auf ihre Art auch nicht zimperlich. Anschläge auf Politiker sind nicht ungewöhnlich, und im Roman erschüttert das Attentat auf den jüdisch-deutschen Reichsaußenminister Walther Rathenau die Menschen. Die Frage der Abstammung und rassischen Zugehörigkeit wird schon gelegentlich gestellt, und an der allgemeinen Einstellung zur Wertigkeit eines Menschen verzweifelt Hulda gelegentlich, denn die Armen werden als Abschaum wahrgenommen, und es klingt schon durch, dass ihnen das Recht auf Leben nicht so richtig zugestanden wird.
Eine von Huldas Patientinnen, Lilo Schmidt, ist Zeugin im Mordfall an der Prostituierten Rita, die ihr fast wie eine Mutter war. Als Hulda mitbekommt, wie grob der Kriminalkommissar Karl North mit der Wöchnerin umgeht, ist sie empört. Sie selbst ist impulsiv und lässt sich von ihren Gefühlen und ihrer Empathie leiten, der Kommissar hingegen ist völlig zugeknöpft. Zu dumm nur, dass er sich in die eigensinnige Hulda verguckt und sie sich zu dem blondgelockten, grünäugigen Grobian hingezogen fühlt. Später wird Hulda erfahren, dass er als Neugeborener von seiner Mutter in ein Waisenhaus gegeben wurde und dort Schreckliches erlitten hat. Er hat sich zwar zur Mittelschicht emporgearbeitet, aber seine grauenhafte Kindheit noch nicht überwunden. Auch Hulda hat ein Thema mit ihrer Mutter und bespricht das bei einer Gelegenheit mit ihrer Vermieterin, die meint: „... wir sind doch alle mit unsichtbaren Fäden an unsere Vergangenheit gebunden und streben mit aller Kraft davon weg. Doch sie ziehen uns immer wieder zurück, denn diese Fäden... sind in uns, wie unsere Adern, durch die das Blut fließt.“ (S. 150).
Dieser Kommissar North ist eine unmögliche Person, denn es scheint, als hätte er gar kein Interesse daran, den Mordfall zu bearbeiten. Umso mehr fühlt die von North als ebenso unmöglich eingeschätzte Hulda sich genötigt, ihre eigenen Recherchen zu betreiben und begibt sich dabei in Gefahr. Sie unterschätzt das Milieu der Prostituierten und Zuhälter. Die ermordete Rita hatte früher im Irrenhaus gearbeitet, und Hulda sieht sich dort unter dem Vorwand einer Bewerbung um. Die Zustände dort sind erschreckend und über die soll Rita ein Tagebuch geführt haben, das aber verschwunden ist. Liegt der Schlüssel zu ihrer Ermordung in diesen Heften?
Anne Stern entwirft ein Gesellschafts- und Sittenbild der 1920er Jahre in Berlin, das vielfach auf die Ereignisse des Großen Krieges zurückgeht. Viele Soldaten, darunter Ehemänner und Väter, sind gefallen, viele Menschen an Hunger und Krankheiten gestorben. Die überlebenden Kriegsheimkehrer litten oft an „Kriegszittern“ und wurden als „Schüttelneurotiker“ bezeichnet, und heute weiß man, dass es sich durch den ständigen Artilleriebeschuss um eine gravierende Art der posttraumatischen Belastungsstörung handelt. Während des Krieges und danach wurden diese Soldaten als Simulanten eingestuft und drastischen Maßnahmen, wie Elektroschocks, unterzogen. Rita hat das als Pflegerin jahrelang miterlebt und in ihren Tagebüchern aufgezeichnet. Während des Krieges hungerte auch das Personal, doch die Behinderten und Kranken wurden danach eingeteilt, wie viel Essen sie wert waren. Da konnten Menschen über Leben und Tod entscheiden, darüber, ob jemand es wert war zu leben oder nicht.
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Fräulein Gold - Schatten und Licht ist mehr als nur ein weiterer Roman über eine Hebamme, sondern auch ein sehr solider Krimi. Das sind Kunstgriffe, durch die die Protagonistin plausiblen Zugang zu Menschen aller Schichten erhält, wie auch der Kriminalkommissar, denn Geburten und Verbrechen geschehen überall. Dadurch gewinnt die Leserschaft einen Überblick über die gesellschaftlichen Zustände und Miseren in einer aufgeputschten Zeit zwischen zwei Weltkriegen, die oft als „Tanz auf dem Vulkan“ bezeichnet wird. „Und auch sie spürte, trotz des Freiheitsgefühls, einen unbestimmten Druck im Bauch, als ahne sie ein Unheil heraufziehen, dessen Namen noch niemand kannte.“ (S. 371). Die nächsten beiden Bände der Trilogie spielen 1923, dem Gründungsjahr der NSDAP und 1924. Sie werden im Herbst 2020 bzw. im Frühjahr 2021 erscheinen.
Helga Fitzner - 7. Juli 2020 ID 12341
Rowohlt-Link zu
Fräulein Gold - Schatten und Licht
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