Ein halbes
Jahrhundert
vor der
Performance
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Als die Studenten zwischen Paris, Berlin und Prag auf die Straßen gingen, randalierte in Wien eine Schar von Epigonen, unter ihnen der spätere Rechtsaußen und Carl Schmitt-Apologet Günter Maschke, in der Innenstadt oder vor der vermeintlichen Springer-Dependance in der Mariahilfer Straße. Eingegangen ist das Häufchen der Aufrechten lediglich in den Anekdotenschatz der Regionalgeschichte und in die Memoiren der reuigen Apostaten. Die „Revolution“ fand am Donaukanal nicht in der Politik, sondern in der Kunst statt. Sie erlebte in den siebziger Jahren, von Politik, Medien und Öffentlichkeit oft eher skeptisch bis feindselig beäugt, einen Aufschwung, der einen Vergleich mit den Metropolen Paris und New York durchaus aushalten konnte.
Ihre Heimat hatten die Künstler jener Jahre nicht so sehr in den Museen, die dem Wortsinn von „museal“ in geradezu fanatischem Eifer gerecht zu werden suchten, wie in kleinen Galerien, die über die Wiener Innenstadt und darüber hinaus verstreut waren. Ihre Inhaber und Kuratoren waren in der Regel Anhänger einer der damals mit einander konkurrierenden und einander nicht selten befeindenden Schulen und Gruppen und selbst, wie ihre Schützlinge, profilierte Persönlichkeiten, die zwar ökonomischen Erwägungen, aber weitaus mehr, als es heute üblich ist, auch ästhetischen Überzeugungen folgten und mit starkem persönlichem Einsatz Kunstpolitik betrieben. Einer der farbigsten unter ihnen war der im vergangenen Jahr verstorbene frühere Antiquitätenhändler und spätere Gastronom Kurt Kalb, seinem Wesen nach eher selbst ein Künstler als ein Kunsthändler. Er wurde denn auch als Zugehöriger zur damaligen künstlerischen und literarischen Avantgarde wahrgenommen, ein begnadeter und zugleich uneitler Selbstdarsteller, originell, unterhaltsam, sympathisch und nicht denkbar ohne seine kongeniale und überaus liebenswürdige Frau Evelyn Oswald, die schon 22 Jahre vor ihm gestorben ist.
1972 gründete Kurt Kalb, allenthalben nur liebevoll „Kurti“ genannt, als Korrektiv zur verdienstvollen, von Monsignore Otto Mauer geleiteten Galerie nächst St. Stephan in unmittelbarer Nachbarschaft, die Galerie in der Grünangergasse. Die Erbschaft traten, nach deren Schließung, die Galerien Schapira & Beck in der Ballgasse und die Galerie Kalb in der Prinz-Eugen-Straße jenseits der Ringstraße an. Diesen drei Galerien ist ein aufwendiger Band in der art edition des Verlags Bibliothek der Provinz im niederösterreichischen Großwolfgers gewidmet. Dass Hans Rauscher zugleich einer der Autoren und in seiner Funktion als Kolumnist der Tageszeitung Der Standard Rezensent der Publikation ist, kratzt niemanden, wo das Wort „Gschmäckle“ nicht in Gebrauch ist.
Die zu einem guten Teil ganzseitigen Bilder werden ergänzt durch kenntnisreiche und erinnerungsgeschwängerte Texte von Zeitgenossen wie Christian Ludwig Attersee, Rolf Schwendter oder Christian Reder sowie der Mitherausgeberin Semirah Heilingsetzer, die in den Jahren, um die es geht, den Kinderschuhen noch nicht entwachsen war, sowie durch vergilbte Zeitungsausschnitte. Ältere Jahrgänge begegnen auf den Fotos, von denen sich viele Lisl Ponger, selbst einer hervorragenden Fotografin und Experimentalfilmerin, sowie ihren genialischen Kolleginnen und Kollegen Cora Pongracz, Friedl Kubelka, Gabriela Brandenstein, Franz Hubmann, Otto Breicha verdanken, Originalen, die einst in Wiens Subkultur eine prominente Rolle gespielte haben: Otto Kobalek, Michel Würthle, Hanno Pöschl, Padhi Frieberger, Hubert Fabian Kulterer, Joe Berger, Josef Dvorak, Rudi Wein, der Wirt des legendären Gutruf. Zu den längst in die Kulturgeschichte eingegangenen Künstlern, deren Werke der Prachtband reproduziert, zählen Christian Ludwig Attersee, Arnulf Rainer, Hermann Nitsch, Günter Brus, Walter Pichler, Max Peintner, Peter Kubelka, Dominik Steiger, Bruno Gironcoli, Maria Lassnig (Frauen muss man mit der Lupe suchen, aber das entspricht der historischen Wahrheit jener Jahre), auch der Schweizer Dieter Roth.
Was der Band nur kursorisch andeuten kann, sind die Querverbindungen der hier dokumentierten Bildenden Kunst zur Literatur, für die Gerhard Rühm die Schlüsselfigur war. Dem Anarchismus, dem viele Protagonisten der Wiener Avantgarde anhingen (Stirner und Bakunin waren ihnen näher als Marx und Engels), entsprach in ihrem Schaffen eine Unbekümmertheit gegenüber den Grenzen zwischen Bild, Wort, Musik und szenischer Kunst, auch Film. Wüssten die Jüngeren mehr davon, würden sie beschämt schweigen, statt all das, was man heute schwammig „Performance“ nennt, für eine Entdeckung zu halten. Schlagzeilen verdanken sie lediglich dem kurzen Gedächtnis, um nicht zu sagen: der Ahnungslosigkeit eines größenwahnsinnigen Kulturjournalismus.
Thomas Rothschild – 1. Oktober 2023 ID 14411
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