Fragile Verhältnisse
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Bewertung:
Den Rest ihrer Semesterferien hatte sich die Musikstudentin Ines Behrendt ganz anders vorgestellt. Dabei hatte alles so gut angefangen, denn ihr irischer Freund John Raymond ist als Gitarrist für die schon recht bekannte Band „Distant Stars“ engagiert worden. Die soll im riesigen Dortmunder Signal Iduna Park, alias Westfalenstadion, als Vorgruppe bei einem Konzert von Eric Clapton auftreten. Ein kleines bisschen mulmig ist es ihr schon, denn John hat Drogenprobleme und ist erst seit relativ kurzer Zeit clean. In Dortmund angekommen, stellen sie fest, dass der begnadete Musiker und Leadsänger der Band Tim Cantely so schwer heroinabhängig ist, dass er kurz vor der Selbstzerstörung steht. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Noch vor dem Auftritt wird der völlig zugedröhnte Tim verhaftet, in dessen Garderobe ein ganzes Kilo Heroin gefunden worden war. Der anschließende improvisierte Auftritt der Distant Stars ohne ihren charismatischen Leadsänger wird ein Desaster, und die Band strebt wieder auseinander. Als ob Ines nicht schon genug Sorgen um John hätte, bleiben die beiden in Dortmund, um sich um Tim zu kümmern, weil der sonst niemanden hat. John kennt den Song von Eric Clapton nur zu gut: „Nobody Knows You When You're Down And Out“, in dem alle Freunde einen verlassen, wenn man am Ende ist.
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Niemand kennt dich, wenn du am Boden liegst ist der Titel des zweiten Romans um das Musikerpärchen Ines und John, den die Autorin Beate Baum frisch veröffentlicht hat. Die beiden haben sich in der von Ex-Beatle Paul McCartney mitgegründeten Hochschule LIPA „The Liverpool Institute for Performing Arts“ beim Musikstudium kennengelernt. Ines begann ihre Semesterferien im heimischen Dresden, weil sie dort bei ihrer Familie wohnen und im Krankenhaus arbeiten konnte, um ihr knappes Budget aufzufrischen. Nach dem Fiasko in Dortmund hätte sie sich besser auf ihr Studium vorbereitet und geübt, aber weder Ines noch John haben das Herz, den auf Kaution entlassenen Tim im Stich zu lassen, der sich im kalten Entzug befindet. Zwischenzeitlich war auch Mordanklage gegen Tim erhoben worden, weil sein Dealer umgebracht worden war. Die finanziellen Mittel der beiden sind fast erschöpft, und Ines muss in ein paar Tagen zum Studienbeginn wieder in Liverpool sein. Dem reichen Tim wurden alle Karten und Konten gesperrt, da ihm aber ein riesiges Haus in Glasgow vererbt wurde, fliegen die drei dorthin, um wenigsten frei wohnen zu können. Tim ist zwar über den schlimmsten Teil des Entzugs hinweg, aber weder körperlich noch psychisch gut drauf. Mit diesem zerbrechlichen Menschen im Schlepptau und fast ohne Geld versuchen die beiden sogar noch den Mordfall aufzuklären, denn der Mörder ist noch nicht ermittelt und eigentlich hätte Tim Dortmund gar nicht verlassen dürfen. Und dann taucht überraschend die Dortmunder Polizeiermittlerin Markowitz in Glasgow auf...
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Auch wenn Niemand kennt dich... kein ausgewiesener Krimi ist, sorgt die Lösung des Falls für Spannungselemente. Dazu braucht es keine rasanten Schnitzeljagden oder anderen Schnickschnack. Baums Roman zeichnet sich gerade durch seine Bodenständigkeit und Wahrscheinlichkeit aus. Alle Gegenden, die sie in ihrer Wahlheimat Dresden beschreibt, kennt sie gut, auch das völlig andere Flair, das in Dortmund herrscht, kennt die gebürtige Dortmunderin von Kindheit an. Dazu gehört der allgegenwärtige Fußballverein BVB, die Mentalität der Ruhrpott-Bewohner und die präzise Beschreibung der Handlungsorte, wie auch der Backstage-Bereich der Bühne.
Beate Baum ist als Reisejournalistin oft im Vereinigten Königreich unterwegs und selbstverständlich mit den beschriebenen Städten Glasgow und Liverpool vertraut. Diese detaillierten Ortskenntnisse machen riesige Lust, sich das mal selbst vor Ort anzuschauen. Ihren Namen hat Baum sich als Autorin von Dresden-Krimis gemacht. Auch der neue Roman beginnt im faszinierenden Elbflorenz, aber Beate Baum hat ihre Handlungsorte schon länger ausgeweitet. Genaue Kenntnisse der Musikszene hat sie sich als Journalistin erworben. Die Beschreibung der 1996 gegründeten Hochschule für darstellende Künste LIPA in Liverpool ist ihr besonders gut gelungen. Da merkt man die Begeisterung für das Projekt und die erfahrene Hand Paul McCartneys, der die Schule so umsichtig konzipiert hat, dass die Studierenden nicht nur die Kunst, sondern auch das Geschäft drum herum kennen lernen. Damit sind sie zumindest vor abenteuerlicher Geschäftspraktiken von Managern gefeit.
Erstaunlich sind aber Baums medizinischen und psychologischen Kenntnisse über Rauschgiftentzug. Wie sie Tims malträtierten Körper beschreibt, seine Entzugssymptome und wie sie sich in seinen seelischen Zustand hineinversetzen kann, ist schon bemerkenswert. Die genaue Beschreibung des so stark belasteten Umfelds gehört mit dazu. Ines und John geraten immer wieder an ihre Grenzen. Aber glücklicherweise nie gleichzeitig, so dass sie sich gegenseitig immer wieder auffangen. Das ist auch für den Leser stellenweise belastend, aber Tim wäre wahrscheinlich nicht mehr am Leben, wenn sich die beiden seiner nicht erbarmt hätten. Er ist der Sohn wohlhabender Eltern, im angesehenen Harrow zur Schule gegangen und im Gegensatz zu John mit vielen Privilegien aufgewachsen. Mit seiner ungewöhnlichen musikalischen Begabung geht aber, wie bei vielen im Musikgeschäft, eine gewisse Anfälligkeit für Drogen einher.
Der politische Hintergrund des Romans ist die anhaltende Finanzkrise. Sie ist allgegenwärtig und bestimmt das Handeln der Protagonisten mit. Da Tim aus Finanzgründen nicht in der Entzugsklinik bleiben kann, nehmen Ines und John ihn einfach mit sich, mit all den Belastungen und Unwägbarkeiten, die das mit sich bringt. Und es sind die lebensechten Details, die den Roman ausmachen. Als sie von Glasgow aus zurück nach Liverpool müssen, können sie sich nur günstige Bahntickets mit fester Zugbindung leisten. Die Zitterpartie, mit einem noch in den Nachwehen des Entzugs befindlichen Junkie, einen solchen Zug zu bekommen, ist einfach wunderbar geschildert. Auch wenn der zitierte Liedtext im Titel das Gegenteil suggeriert, Ines und John lassen Tim nicht im Stich, hangeln sich von Tag zu Tag, ohne Gewissheit, was der nächste Tag bringen mag. So ist es eigentlich eine positive Geschichte voll von Mitmenschlichkeit und bei aller Tragik mit einigen wunderbaren Glücksmomenten.
Helga Fitzner - 17. April 2018 ID 10647
Weitere Infos zu Beate Baum:
http://www.beatebaum.de/Musikerromane.html
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