„Irgendjemand
schaute
immer zu.“
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Bewertung:
„Die Winzigkeit der Welt lässt sie manchmal schwindeln. Das ist alles. Eine wilde, stürmische Inversion.
Über ihnen ein lauter Donnerschlag, der das Glas und den Tisch erzittern lässt. Es hallt in ihr wider, in ihnen, und in diesem Moment ist alles vereint und vibriert wie eine einzige angeschlagene Saite.“
(Brandon Taylor, Die letzten Amerikaner, S. 310)
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Unter schwerer Wolkendecke kündigt sich Unwetter an, während Fatima, die in einem Café jobbt, sich eine Pause gönnt. Sie sinniert, Zigarette rauchend, vor dem Café zusammen mit ihren langjährigen Freunden Daw und Noah, die sie auf der Arbeit besuchen. Die drei Mittzwanziger kennen sich von einer kräftezehrenden Tanzausbildung.
Brandon Taylor zeichnet Momentaufnahmen von jungen Menschen in persönlichen Umbruchszeiten in der Universitätsstadt Iowa City im Mittleren Westen. Sein zweiter Roman Die letzten Amerikaner (orig. The Late Americans, 2023) wurde von Maria Hummitzsch 2024 einfühlsam aus dem amerikanischen Englisch übersetzt. Der 35-jährige US-amerikanische Autor porträtiert Tänzer, Studierende und Menschen mit Einschränkungen. Er widmet sich in jedem Kapitel einer neuen Perspektive. Selbst- und Fremdwahrnehmung vermischen sich: mal wird aus der Perspektive einer Figur erzählt, dann wird sie aus der Sicht einer anderen Figur wahrgenommen. Protagonisten kommen zusammen und trennen sich wieder, teils auch endgültig.
Da gibt es den Anfang zwanzigjährigen Fjodor, der in einer Fleischfabrik als Zerleger von Rindern arbeitet. Sein Freund Timo wirft ihm seit langem vor, Teil eines Systems der Tierquälerei zu sein. Beide geraten ständig aneinander. Trotzdem glaubt Fjodor, dass er Timo liebt:
„Menschen zu lieben war schwer. Manchmal fiel es schwer zu glauben, dass sie gut waren. Es war schwer, sie zu verstehen. Aber das hieß nicht, dass man einfach weitermachen konnte, ohne es zu versuchen. Er glaubte fest daran, dass Liebe mehr war als Güte und mehr, als den Menschen einfach das zu geben, was sie wollten. Liebe war mehr als nur das, was leicht und angenehm war. Manchmal war Liebe der Versuch zu verstehen. Liebe war der Versuch, all das zu überwinden, was schwer war...“ (S. 103)
Fjodor überlegt, dass Timo, ein Student der Mathematik, ihn wegen seiner offenen und einfachen Art möglicherweise weniger liebt oder wertschätzt. Später widmen sich Timos Bewusstseinsströme Fjodor nicht so intensiv. Sie kreisen um die Akzeptanz der Gesellschaft für sein Studienfach angesichts allgemeiner Wissenschaftsfeindlichkeit. Er erscheint desillusioniert:
„In Amerika herrschte immer mehr die Vorstellung, dass Mathematik eine einfache, konkrete Sache zu sein habe. Etwas Pragmatisches. Und es waren nicht nur bockige Teenager, die sich über das Lernen von Theoremen und Beweisen aufregten. Die Frage beeinflusste auch die Beantragung und Evaluierung von Stipendien. Die Öffentlichkeit beäugte es misstrauisch, ja feindselig, wenn sogenannte öffentliche Mittel in etwas gesteckt wurden, das in ihren Augen eine Frivolität war. Die amerikanische Wirtschaft wurde angetrieben vom Was nützt mir das?. Aber es gab keine Übersetzung für Timos Forschung, keinen Hochglanzlack, den er schnell darübersprayen konnte." (S. 180f.)
In unsicheren Zeiten einer gespaltenen Gesellschaft fehlen Gewissheiten. Auch hier moduliert Brandon Taylor die Figur des Timo als Sorgenträger eines Amerikas voll getrübter Hoffnungen, wenn er ihn an das schwindende Vermögen seiner Eltern denken lässt:
„Sie hatten Vermögen gehabt, aber dann war das Fundament dieser Vermögen erodiert, durch Steuern und Zölle, die Verlagerung von Kapital und Arbeit ins Ausland. Durch den Niedergang der Landwirtschaft und Industrie, die bröckelnde Infrastruktur, einst geschaffen vom amerikanischen Wohlstand der Jahrhundertmitte, der dann im Hype der neoliberalen oder auch neokonservativen Neunziger verbrannt worden war. Reagan, Bush, Clinton, und jetzt Obama: Es war alles weg. Alles verbraucht. Oder zumindest umstrukturiert und weggeschlossen hinter immer strengeren Regelungen und Gesetzen.“ (S. 195)
Es ist eine Offenheit, eine Unterschiedlichkeit der Perspektiven, die den Roman spannend macht. Wie schon in den Vorgängerwerken Real Life (2021) und dem Erzählband Vor dem Sprung (2022) setzt Taylor einen Fokus auf männliche Homosexualität, Begehren und Gewalterfahrungen. Im Beziehungsgeflecht treffen eine Reihe überwiegend männlicher Protagonisten mit unterschiedlichen Hintergründen aufeinander. Sie haben teils ähnliche Sinneseindrücke beim Sammeln von Erfahrungen in diesem, sozial oft kalten oder abweisenden Amerika.
Der Creative Writing-Student Seamus betrachtet sich und seine Mitmenschen bei der Suche nach Inspiration von oben, „wie kleine Aufziehmännchen in einer Ausstellung mit dem Titel Die letzten Amerikaner.“ (S. 62) Um sein Schreibstudium zu finanzieren, jobbt er in einem Hospiz. In der Nähe des Hospizes trifft er auf den älteren Bert, der ihn spontan zu sexuellen Handlungen verleitet (S. 52). Später fühlt er sich von den großen und kräftigen Mann bedroht (u.a. S. 206f.). Er trifft Bert in dem Hospiz regelmäßig als Gast an, da dessen Vater hier untergebracht ist.
Bert, der im Roman Grenzen überschreitet, erscheint als eine der unheimlichen Schlüsselfiguren, da er existenzielle Ängste bei verschiedenen Protagonisten freisetzt. Auch der ehemalige Tänzer Iwan, der Gelegenheitsarbeiten in Immobilien von Berts Vater übernimmt, fühlt sich von Bert körperlich bedrängt und ist nachhaltig unangenehm von ihm berührt (S. 131). Der angehende Tänzer Noah lebt in den Immobilien, die Bert nach dem Tod seines Vaters gehören. Er geht ein sexuelles Verhältnis mit ihm ein und erhält dafür Mietvergünstigungen. Noah wird von Bert verletzt (S. 233f., S. 247) und ein Opfer seiner Gewalt (S. 260). Bert ist mehrfach Gesprächsthema zwischen Noah und seinen Freunden (S. 124, S. 265f.). Noahs Beziehung wird dabei heftig verurteilt. Bald denkt Noah selbst an einen Aus- und Wegzug, auch um das Kapitel mit Bert zu beenden.
Atmosphärisch stimmungsvoll fängt der Erzähler das Ausklingen einer Party von Noah ein, bei der gleich mehrere Figuren zusammenkommen, deren Innenperspektiven nacheinander erzählt werden:
„Der Abend neigte sich dem Ende zu. Die Veranda hatte sich schon vor einer halben Stunde geleert, aber in der Küche drängten sich noch verschiedene Körper zu einem überfüllten Kern zusammen. Irgendwann würden sie sich aufspalten. Sich auf dem Heimweg der Nacht hingeben, ihre Gerüche und Ausdünstungen und Stimmen hinter sich herziehen, einen Kometenschweif der Zeit, die sie verlebt hatten.“ (S. 139)
Die Gedanken und Wahrnehmung der Figuren sind spannend, da Brandon Taylor eine Vielzahl von Themenfeldern bereits zu Anfang aus unterschiedlichen Blickwinkeln fokussiert: Es geht um Partnerschaft und Enttäuschungen, Sexualität und Verletzlichkeit, Einsamkeit und Gemeinschaft, Zukunftsängste und -wünsche, Dichtung und Identität, körperliche Unversehrtheit und Behinderung, Streitlust und Wut, Macht und Ohnmacht, Pornografie und Kunst, Schwangerschaftsabbrüche und Auswirkungen einer Kindesentführung auf eine betroffene Familie.
Leider verliert man bei der Vielzahl unterschiedlicher Konfliktfelder und Charaktere mitunter den Überblick, insbesondere wenn am Ende noch einmal einige der vorherigen Erzähler aufeinander treffen. Nun werden die Protagonisten neu aus der Perspektive einer zuvor kaum im Mittelpunkt stehenden Figur, Daw, betrachtet.
Nach der Lektüre des über 350seitigen Romans bleibt ein unbestimmtes Bild der Sehnsucht in einem noch jungen Amerika. In vielen der Akteure keimen Gefühle der leisen Wehmut über verpasste Chancen. So erkennt Noah, dass ihm oberflächliche Intimität den leise aufkeimenden Wunsch nach Nähe und Geborgenheit nicht erfüllt, während er seinen Gelegenheits-Sexualpartner Ólafur, einen vergebenen Tanzdozenten, beim Sich-Anziehen betrachtet:
„Er würde sich auf den Weg machen zu seinem Partner und ihrem gemeinsamen Zuhause, das mit den Granatsplittern ihres Lebens gefüllt war, und einen Moment lang, nur einen Moment, war Noah überwältigt beim Gedanken an die Gesamtheit dieser Dinge, dieser ganzen Gegenstände, die er nie sehen, nie berühren oder kennen würde, und das machte ihn traurig. Dass nach all dieser Zeit, in der er Ólafur kannte und die besonderen, intensiven Arrangements ihrer Körper erlebt hatte, noch so vieles von ihm blieb, das er nicht kannte.“ (S. 263)
n.k. - 28. Dezember 2024 ID 15080
Piper-Link zu Brandon Taylors
Die letzten Amerikaner
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