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Der Buchspazierer Carl Kollhoff von Carsten Henn ist ein kauziger alter Mann, der mit Leib und Seele Buchhändler ist. Mit seinen 72 Jahren trägt er immer noch jeden Werktag Bücher an einzelne Kunden und Kundinnen aus, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr das Haus verlassen und die sich von ihm die richtigen Bücher aussuchen lassen. Jahr um Jahr dreht er seine Runden, und vom ihm aus könnte es immer so weiter gehen, wenn nicht seine Chefin Sabine Gruber alles daran setzen würde, ihn loszuwerden. Er hatte schon für ihren Vater gearbeitet und kennt sie seit ihrer Geburt, aber sie hat die Liebe ihres Vaters zu Büchern nicht geerbt und versucht nach dessen Ausscheiden den Buchladen modern zu führen. Sie erkennt nicht, dass gerade Carl und seine Hingabe an Literatur das Besondere an ihrem Geschäft ausmacht. Allerdings ist Kollhoff schon ganz schön aus der Zeit gefallen.
„Carl sah keine Nachrichten, hörte kein Radio, las keine Zeitung. Er war der Welt, wie er sich manchmal eingestand, abhandengekommen. Es war eine bewusste Entscheidung gewesen, als ihn all die Berichte über unfähige Staatenlenker, das Schmelzen der Polkappen und das Leid der Vertriebenen trauriger gemacht hatten als das tragische Familiendrama in Buchform. Es war Selbstschutz gewesen, auch wenn seine Welt seitdem viel kleiner geworden war. Sie maß nur noch gut zwei mal zwei Kilometer...“ (S. 12)
So beginnt er jeden Abend mit wetterfesten Schuhen und in praktischer Kleidung seine Runde vom Münsterplatz aus, bis auf einen Schlag alles anders wird. Die neunjährige Schascha gesellt sich zu ihm und lässt sich nicht abwimmeln. Zu seiner Überraschung finden seine sehr speziellen Kunden und Kundinnen Gefallen an dem sehr bestimmten, aber liebenswerten Mädchen. Kollhoff beginnt sie zu mögen, obwohl er mit Kindern gar nicht so gut umgehen kann, doch sie stellt seine Welt auf den Kopf. Sie findet nämlich heraus, dass es den einsamen Menschen gar nicht um die Bücher geht, sondern darum, von jemandem besucht zu werden, der sich zudem Gedanken über das geeignete Buch für sie gemacht hat. Kollhoff hat seine Kundschaft sogar liebevoll nach literarischen Figuren benannt.
Schascha ist mit seiner Auswahl der Bücher allerdings nicht zufrieden. Da ist z.B. die leidende „Effi“, der er Geschichten von traurigen Frauengestalten mitbringt. Schascha kennt Theodor Fontanes Roman Effi Briest nicht, deren Namen sie bekommen hat, meint aber, dass ihr eine Aufmunterung besser täte. Als sie dann noch Zeugen werden, dass sie von ihrem Ehemann schlecht behandelt wird, sucht Kollhoff tatsächlich emanzipatorische Bücher für sie aus. Durch Schaschas aufgeweckte Art kommen sie hinter das eine oder andere Geheimnis der Kundschaft. Und sie versuchen das Gegenteil von dem, was Kollhoff bislang gemacht hat. Er bringt fortan keine Bücher mehr mit, die den Status quo bestätigen, sondern vielleicht helfen, sich der Lebenssituation bewusst zu werden und sie möglicherweise etwas zu verbessern. Bücher können durchaus eine Wirkung erzielen, und deshalb sollte man in der Wahl achtsam sein, weiß Kollhoff:
„... manche Gedanken, die sich zwischen Buchdeckeln befanden, waren wie Gift – aber viel häufiger steckte Heilung im Papier. Manchmal sogar für Dinge, bei denen man gar nicht gewusst hatte, dass sie der Heilung bedurften.“ (S. 14)
Und Schascha lernt von Kollhoff:
„... es gibt kein Buch, das allen Menschen gefällt... Man kann nicht jedermanns Freund sein, denn jedermann ist anders. Und dann müsste man ohne Persönlichkeit sein, ohne Ecken und Kanten.“ (S. 89)
Kollhoff verlässt eines Tages seinen 2-km-Radius, um einem Kunden, dem Vorleser (nach Bernhard Schlinks gleichnamigem Buch) in wichtiger Mission zu helfen. Das gelingt gut. Auch die bunt bekleidete Grundschullehrerin Frau Langstrumpf, die nach einem Trauma das Haus schon lange nicht mehr verlassen hat, wächst über sich hinaus. Und Darcy, benannt nach dem zunächst arroganten Adeligen aus Jane Austens Stolz und Vorurteil, entwickelt sich zum Positiven. Kollhoff und die kleine Schascha sind als Team unschlagbar. Alle erwachen irgendwie aus ihrer Erstarrung und finden wieder zu sich selbst.
Aber dann schlägt das Schicksal zu – und zwar gleich mehrfach - , und die humorige und eher heitere Geschichte wird sehr dramatisch. Und leider nein, Bücher können nicht alles heilen. Kollhoffs ehemalige Chefin Sabine Gruber kann sich kaum für Menschen öffnen, schon gar nicht für Bücher, und trifft sehr menschen-unfreundliche Entscheidungen, mit denen sie hofft, ihren Einzelhandel zum Erfolg zu führen. Kollhoff dagegen lernt durch Schascha, sich nicht länger in die Welt von Büchern zu flüchten, sondern sich mehr den Menschen zuzuwenden. Trotz diverser Enttäuschungen.
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Der Kölner Autor Carsten Henn ist literarisch gesehen ein Hansdampf in allen Gassen. Als Weinjournalist und Restaurantkritiker legt er sehr viel Wert auf Genuss. Henn hat etliche Krimis geschrieben und ungewöhnliche Hobbydetektive als Schnüffler, sei es den Sternekoch Julius Eichendorff oder den italienischen Trüffelhund Giacomo. Der Autor wirft in Der Buchspazierer einen liebevollen Blick auf seine Figuren und besonders auf das, was sie einzigartig und besonders macht. Er führt sie behutsam aus ihrer Isolation heraus und verbindet sie miteinander. Es entsteht zwar Schaden an Mensch und Buch, aber der wird wieder behoben, wenngleich Blessuren zurück bleiben. Das Buch setzt keine literarischen Vorkenntnisse voraus und ist auch für ältere Kinder geeignet. Am Ende gewinnen die Literatur, die Menschlichkeit und die Individualität wieder Oberhand, aber nur, weil man sich zusammengeschlossen und darum bemüht hat.
Helga Fitzner - 29. Dezember 2020 ID 12675
Der Service, auch in Buchhandlungen, läuft immer mehr in die Richtung, dass nicht die DienstleisterInnen mehr für die Kunden da sind, sondern die Kundschaft sich dem automatisierten, Daten speicherndem System anpassen muss. Am wenigsten trifft das für die kleinen unabhängigen Buchläden und EinzelhändlerInnen zu. Wenn wir die im Blick behalten und unterstützen, erhalten wir gleichzeitig unsere Vielfalt und ein Stück Unabhängigkeit.
Carsten Henns Der Buchspazierer ist eine Liebeserklärung an Bücher und all jene, die sie zu würdigen wissen. Zu Beginn gibt es eine Widmung: „Für alle Buchhändlerinnen und Buchhändler: Selbst in Krisen versorgen sie uns mit einem ganz besonderen Lebensmittel." (S. 5)
Piper-Link zu
Carsten Henns Der Buchspazierer
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