Ausufernder
Geschichtsroman
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Bewertung:
„Macht euern Dreck doch alleene“ und noch weitere nicht ganz jugendfreie Sachen soll der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer gerufen haben, nachdem im letzten Jahr die Jury nicht ihm, sondern seiner ebenfalls in Leipzig lebenden Kollegin Martina Hefter für ihren Roman Hey Guten Morgen, wie geht es dir? den Preis der Frankfurter Buchmesse zugesprochen hatte. „Der Sachse lässt die Zunge schleifen“ ist nicht nur eine schöne Redewendung zur Erklärung der Eigenheiten sächsischer Mundart, sondern kommt in Meyers nun nicht buchpreisprämiertem Roman Die Projektoren des Öfteren vor.
Sachsen und insbesondere die Heil- und Pflegeanstalt des Dr. Güntz zu Leipzig-Thonberg spielen darin eine nicht unerhebliche Rolle. Aber auch andere sächsische Orte wie etwa Zwickau oder Amerika, ein Ortsteil der Stadt Penig an der Zwickauer Mulde. Ebenso aus dieser Gegend stammt der Schriftseller Karl May (1842-1912), Autor der bekannten Abenteuerromane um den Apachenhäuptling Winnetou und seinem weißen Blutsbruder Old Shatterhand, weiterer Wild-West-Romane sowie eines umfangreichen Roman-Zyklus über den Vorderen Orient. Erzählerfigur und Autor verschmolzen darin zuweilen so weit, dass May behauptete, selbst Old Shatterhand zu sein und den Wilden Westen bereist zu haben. In Meyers Roman wird er Dr. May genannt. Ein Titel, den er unberechtigterweise führte.
Clemens Meyer geht es in seinem über 1.000-seitigen Roman aber nicht um die Rehabilitierung eines nach wie vor umstrittenen Autors. Die Person und das Werk Karl Mays dienen hier eher als Ausgangspunkt und wiederkehrende Schnittstelle weltpolitischen Geschehens vom Zweiten Weltkrieg über die Jugoslawienkriege bis zum Bürgerkrieg im Irak (2013-2017). Eine beträchtliche Zeitspanne, die auch den Großteil des Lebens eines im Roman Cowboy genannten Serben umfasst, der als Jugendlicher für Titos Partisanen Meldegänger und nach dem Krieg auf einer Gefängnisinsel (gemeint ist das Umerziehungslager auf der Adria-Insel Goli otok) inhaftiert war. In die Weiten des kroatischen Velebit-Gebirges verbannt wird jener Cowboy später Kleindarsteller der dort ab den 1960er Jahren gedrehten Karl-May-Filme und Freund des Old-Shatterhand-Darstellers Lex Barker, dessem Leben auch einige der immer wieder weit ausschweifenden Kapitel des Romans gewidmet sind.
Vom kroatischen Velebit nach Leipzig, über Amerika in Sachsen nach New York, Wounded Knee und wieder zurück. Meyer fügt zusammen, um mal den viel zitierten Satz Willy Brandts zu bemühen, was zusammengehört. Denn auch die alte Bundesrepublik und das nach der Wende wiedervereinigte Deutschland sind episodenhaft im Roman enthalten. In einem zweiten Strang wird die Geschichte des in den 1980er Jahren in Leipzig aufwachsenden Jungen Georg erzählt. Der begeisterte Leser der Kriegs-Bildergeschichten in der Jugend-Zeitschrift Atze und Fan der DDR-Indianerfilme mit dem serbisch-deutschen Schauspieler Gojko Mitić wird später Anhänger einer rechtsradikalen Jugendgruppe und gerät nach der Ausreise seiner Eltern in den Westen in die Kreise junger Neonazis mit kroatischen Wurzeln, die in den 1990er Jahren als Söldner an den Jugoslawienkriegen teilnehmen.
Spätestens hier schließt sich der Kreis zum ab den 1970er Jahren in einer westdeutschen Stadt als Schreiber von Wild-West-Groschenheften lebenden Cowboy, der seinerseits für die serbische Armee und ein vereinigtes Jugoslawien wieder in den Krieg zieht. Meyer ist das aber nicht genug. In weiteren Kapiteln führt er die Leserschaft mit viel Lust und zuweilen durchaus humorvoll am ironischen Nasenring durch die Weiten seiner ausufernden Fantasie. Neben den parallelen Erzählsträngen der Figuren, Cowboy, Georg und Freund Franco Nemo gibt es komische Ausflüge in besagte Leipziger Irrenanstalt, in der ein der Fragmentarist genannter Insasse die Aufmerksamkeit eines ganzen Expertenkongresses auf sich zieht, die Geschichte zweier jugoslawischer Brüder, die als Chronisten nicht nur ihr eigenes Land bereisen. Man begegnet einem der Hadschi genannten deutschen Islam-Konvertiten, der wie ein untoter Geist immer wieder die Handlung streift, sowie einem ostdeutschen Journalisten auf Reise nach Belgrad in den Hochzeiten der deutschen Flüchtlingskrise, der im Zug einem rechten Vordenker und Anhänger der ungarischen Pfeilkreuzler begegnet. Meyer montiert poetischen Erzählstil, Kolportage, Gedankenfluss, Adoleszenzroman, Kriegsberichte und Satire wie selbstverständlich ineinander, springt dabei in den Erzählebenen, Orten und Jahren hin und her.
Meyer hat im Anhang eine Liste mit Quellenangaben angefügt. Seine umfangreiche Recherchearbeit umfasst also nicht nur Reisen in die Gegenden, in denen die Karl-May-Filme gedreht wurden und später die jugoslawischen Zerfallskriege tobten, sondern umfasst auch die Lektüre von Werken u.a. von Anna Seghers, Christa Wolf, Heiner Müller, Ivo Andrić, Ernst Jünger und natürlich Karl May. Literarische Fiktion als Versuch der Einordnung historischer Fakten. Wie Karl May versucht sich Clemens Meyer zuweilen als unzuverlässiger Erzähler da, wo er den historischen Ereignissen seinen erklärenden Stempel aufdrückt. Das verlangt ein Mindestmaß an Geschichtskenntnis. Als Versuch der Erklärung, wie sich rechtes Denken und Nationalismus in beiden Teilen Deutschlands über heroisch-romantisierende Abenteuerliteratur seinen Weg bahnte, kann der Roman auch verstanden werden.
Viel Akribie legt Meyer aber in die Verwendung osttypischer Redensarten und Begriffe. Da werden Westsozialisierte sicher etwas im Trüben fischen. Man kann sich aber auch treiben lassen und am ungewöhnlichen mitunter sehr anstrengenden Schreibstil des Leipziger Autors delektieren. Für Cineasten bietet dieser Roman so einiges an Lesenswertem von den Anfängen des Stummfilms in Belgrader Bioskopen über die Karl-May-Filme bis zu den DDR-Indianerfilmen. Meyer wartet auch mit einem Exkurs zu den fotografischen Flinten auf. Überhaupt ist der Roman neben seiner Schilderung, wie unterschiedlich Literatur und Film als fiktionale Verarbeitung von Wirklichkeit ihre Wirkung auf historische Abläufe entfalten, eine große Liebeserklärung ans Kino, wo man sich Meyers Mammutwerk gut vorstellen könnte. Und auch das Theater schielt wohl schon nach den Projektoren. Sicher ein Fest für den fragmentarisch-assoziativen Montagestil eines Sebastian Hartmann.
Stefan Bock - 21. Januar 2025 ID 15113
S. Fischer-Link zu
Clemens Meyers Die Projektoren
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