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Roman

Unangreifbar oben

- Inszenierung der

Realität





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„Ich betrachtete mein Leben wie ein Apnoetaucher. Ich sah es an der Oberfläche glitzern, aber ich konnte nicht mehr atmen. Seit zwanzig Jahren hatte ich nicht mehr geatmet. Nicht, dass diese Jahre nun wie weggeblasen gewesen wären. Im Gegenteil, es fühlte sich an, als hätte ich tausend Leben gelebt. Aber ich hatte nie geatmet, nicht einen einzigen Moment lang: Ich war ohne Sauerstoff gewesen.“ (Giuliano da Empoli, Der Magier im Kreml, S. 239f.)

*

Das System der Demokratie scheint von vielen Seiten unter Druck. Es birgt heute Herausforderungen, diese freiheitliche Herrschaftsform gegen alle Schwierigkeiten zu verteidigen. In Österreich sind Rechtspopulisten stärkste Kraft, mit Sorge blicken die Bürger der Wahl in den USA im November und der Bundestagswahl im kommenden Jahr entgegen. Wladimir Putin wird anscheinend von bekannten Populisten, wie Sahra Wagenknecht, häufig unterschätzt. Nicht nur in der russischen Bevölkerung herrscht eine Sehnsucht nach Autorität. In Russland gibt es keine ernstzunehmende Opposition mehr. Der Alkoholkonsum in der Bevölkerung stieg in Russland seit dem Ukraine-Konflikt 2022 wieder deutlich an.

Der Magier im Kreml (erstveröffentlicht 2023) ist das immens erfolgreiche Romandebüt des italo-schweizerischen Politologen und Journalisten Giuliano da Empoli. Der Autor lebt selbst in Frankreich. Thematisch behandelt sein Roman die politische Laufbahn des russischen Präsidenten. Inspiriert ist die Figur des zentralen Erzählers Wadim Baranow von einem Regisseur und Produzent, der von 2013 bis 2020 Chefberater Putins war: Wladislaw Jurjewitsch Surkow (geb. 1964). Putin wird von Boranow stets „der Zar“ genannt, auf dessen Gunst er sich angewiesen sieht, um am sogenannten „Hofe“ bestehen zu können. Als taktischer Stratege beobachtet er genau den Einfluss möglicher Konkurrenten und die Launen Putins:


„Solange meine Beziehung zum Zaren unangreifbar schien, konnte er nicht viel tun, aber jetzt, da sie zu bröckeln begann – den hypersensiblen Antennen der Höflinge entging nichts –, war es vielleicht der richtige Zeitpunkt einzugreifen.“ (S. 219)


Der Magier im Kreml streift thematisch einige Gemeinplätze zu Putin, seine Angst vor der NATO, den Amerikanern und Demokratie, die Annexion der Krim, die Olympischen Spiele von Sotschi oder Merkels Besuch bei Putin und ihre Konfrontation mit dessen Labradorhündin. Zu Anfang berät der Ich-Erzähler mit dem Oligarchen Boris Beresowski, wie Putins Präsidentschaft aufzubauen sei. Später schaut Boranow mit an, wie Beresowski ins britische Exil fliehen muss. Boranow ist zufällig eng mit dem Oligarchen Michail Chodorkowski befreundet, der später eingesperrt wird.

Da Empoli hat viel recherchiert, war jedoch hierfür nicht vor Ort in Russland. Boranow betrachtet Putin oft als kühl, unnahbar und kaum zu beeindrucken. Der Ich-Erzähler beschreibt beim russischen Staatsoberhaupt die dumpfe Entschlossenheit eines Machtmenschen, ohne dass der Präsident, immerhin verantwortlich für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, dämonisiert wird:


„Putin war kein großer Schauspieler, wie ich geglaubt hatte, sondern nur ein großer Spion. Ein schizophrener Beruf, der zweifellos schauspielerische Qualitäten erfordert. Aber der wahre Schauspieler ist extrovertiert, seine Freude an der Kommunikation ist echt. Der Spion hingegen muss in der Lage sein, alle Emotionen, so er überhaupt welche hat, zu blockieren. In der Praxis kommen ihm beide Talente zugute: Er muss die Empathie des Schauspielers simulieren und die Kälte des Chirurgen im Operationssaal besitzen.“ (S. 214)


Auch der Ich-Erzähler selbst bleibt recht blass, wortkarg, zuweilen naiv und zeigt wenig Emotionen. Seine Innensicht oder seine Gefühle werden kaum wiedergegeben. Sogar der Beratungsprozess bleibt undurchsichtig. Es wird jedoch beispielhaft beschrieben, wie der Erzähler abtrünnige wichtige Oligarchen wieder auf Spur zu bringen versucht, um sie erneut hinter dem Kremlchef aufzubauen.

Der Magier im Kreml erscheint so leider recht oberflächlich und seicht. Bei Konflikten geht da Empoli wenig in die Tiefe. Es werden auch Grausamkeiten oder Intrigen höchstens nur angedeutet.

Wie das Regime in Moskau gegen den Westen vorgeht, etwa durch aus dem Kreml gesteuerte Spionage, Hacker-Angriffe, die Finanzierung von Parteien, Desinformationskampagnen, um westliche Demokratien zu destabilisieren oder Putins hybrider Krieg gegen NATO-Länder, werden nicht thematisch gestreift. Auch zu Angehörigen oder Freunden Putins erfahren Lesende nichts.

Ärgerlich ist insbesondere eine unmotiviert erscheinende und gegen Ende kitschig und klischeehaft wirkende Rahmenerzählung, mit der Der Magier im Kremleingeleitet wird. So wählt Putins einstiger Chefunterhändler eingangs einen Journalisten aus, den er von Fahrern zu sich bringen lässt, um ihn ohne Unterbrechung über hunderte Seiten seine Lebensgeschichte zu erzählen. Warum er gerade diesen Journalisten ausgewählt hat, bleibt offen.

Insgesamt erscheinen auch die Sätze im Roman recht unliterarisch, sind oft kurz und sachlich (Übersetzung aus dem Französischen von Michaela Meßner). In seltenen Momenten gehen knappe oder missliche Worte jedoch in atmosphärische Bilder über, etwa wenn Boranow seine Beziehung zu seiner einstigen Freundin Xenja, nach einem Abendessen in einem Hotel, während eines Spaziergangs wieder aufleben lässt:


„Und da wurde ich mir wieder der Nutzlosigkeit von Worten bewusst. Einen Moment zuvor brauchte man sie nicht, den nächsten Moment hätte nichts verhindern können. Wir verließen das Hotel und gingen los. Die ganze Vorstellungskraft des nächtlichen Moskau stand uns zur Verfügung. Über uns war der Himmel tief und klar. Wir bogen in die kleinen Gassen um die Twerskajastraße ein. Unsere Schritte versanken im Schnee, traten an die Stelle der Worte. Die Fassaden der alten Herrenhäuser und die mit dicken Flocken bedeckten Äste der kleinen Bäume waren unsere stillen Begleiter. Ihr Wohlwollen machte jede Vorsicht überflüssig. Wir sahen uns ab und zu an und suchten in unseren Blicken nach Bestätigung.“ (S. 187)


Ansgar Skoda - 12. Oktober 2024
ID 14962
C.H.Beck-Link zum Magier im Kreml


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