Stets zu Diensten,
bis hin zur
Selbstaufgabe
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Bewertung:
„'Ich will mal Schlafwagendiener werden, wenn ich groß bin', sagt Esme. Das laute Gelächter der Fahrgäste übertönt für Baxter alles andere, einige Sekunden lang hört er nicht einmal das Rattern des Zuges über die Gleise.“ (Der Schlafwagendiener von Suzette Mayr, S. 122)
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Der Hohn der Mitreisenden gilt nicht der kleinen Waise Esme, die ihre Großmutter im Zug begleitet. Freiheraus drückte Esme ihre Anerkennung für die Tätigkeit des Pagen aus. Das Lachen ist eine von vielen Schikanen, mit der Baxter konfrontiert wird. Der 29-Jährige bedient als Schlafwagendiener gut betuchte Passagiere um 1929 in einem holzvertäfelten Nachtzug. Der Trans Canada Express fährt auf seine fast 4.500 Kilometer lange Reise über mehrere Tage von Montreal nach Vancouver. Die Wünsche der Zuggäste sind ausgefallen. Auch nachts ertönen diverse Klingeln. Der junge schwarze Mann ist neben einer schier endlosen Fülle aufopferungsvoller Dienstleistungen auch konfrontiert mit Rassismus und Homophobie. Er liebt heimlich Männer und beginnt, wegen Schlafmangels, zu halluzinieren.
Suzette Mayrs historischer Roman Der Schlafwagendiener erzählt dicht durchwebt und atmosphärisch stimmungsvoll von sozialen Machtgefällen, skurrilen Figuren und Erlebnissen auf engem Raum.
„Als Baxter gerade seinen Trittschemel zurück in den Zug stellt, ertönt vom Bahnsteig her ein gellender Schrei. Er vermag nicht zu sagen, ob das der Zug war oder er selbst. […] Baxter wischt sich mit dem Taschentuch das Gesicht ab, doch der Schweiß rinnt weiter: Nach dem morgendlichen Chaos sind immer noch Waschtische und Böden zu putzen, die schmutzigen Bettlaken der Langschläfer in Säcken in den Wäscheschrank zu stopfen.“ (S. 135)
Abhängig vom Wohlwollen und Trinkgeld der Passagiere hat Baxter eine ganz eigene Sicht auf die Fahrgäste. In Der Schlafwagendiener werden diese Kunden meist nur aus Baxters Sicht oberflächlich wahrgenommen. So wird das Schicksal der anderen Zugreisenden nur angedeutet und erhält mitunter nur wenig Tiefgang. Der Endzwanziger gibt den Mitreisenden in seinen Bewusstseinsströmen sprechende Namen, die zum Schmunzeln einladen.
Der Romanheld selbst ist auch ein Zahnmedizinstudent, der über seinen Verdienst als Page sein Studium finanziert. Er interessiert sich so insgeheim auch für die Gebisse und Zahnfehlstellungen seiner Mitreisenden. Es ist erfrischend, wenn Baxter beim Begrüßen der Insassen als erstes über mögliche Optimierungen ihrer Zahnreihen nachdenkt. Baxter fügt sich dabei bereitwillig in eine schweigsame, sich unterordnende Opferrolle und versucht nicht aus dieser auszubrechen. Er tut wahrscheinlich gut daran, denn Diener kassieren Strafpunkte für kleine Vergehen und riskieren oftmals sogar ihre Arbeit, wenn ihnen Zuggäste Vorwürfe machen. Hierfür haben sie ein Regelbüchlein verinnerlicht, das sie bei sich tragen müssen und das aus heutiger Sicht vielfach absurd erscheint:
„Dann die unendlich vielen Regelverstöße, die einem Strafpunkte einbringen können (Illoyalität, Unehrlichkeit, der Genuss berauschender Spirituosen oder der Besuch von Orten, an denen sie verkauft werden, Unmoral, Unbotmäßigkeit, Unfähigkeit, grobe Nachlässigkeit, Unaufrichtigkeit).“ (S. 126)
Neben fortwährende Bilder des Mangels aufgrund von Schlafentzug und einer unzureichenden Ernährung, vom Sekundenschlaf und der Halluzinationen treten stets auch poetische Sinneswahrnehmungen. So erinnert sich Baxter, mal mit dem Steiß an der Wand stehend, an Momente seiner Kindheit:
„Sonnenlicht kriecht an den Rändern der Rouleaus in den Wagen; immerhin ist es erst kurz nach zwölf. Die Staubkörnchen, die im Salon durch die Lichtstrahlen wandern, und die kühlen Luftkringel, die an den Wänden hinabgleiten, lassen Baxter erschaudern. Er spürt die steinschwere Stille seines Elternhauses, riecht die permanente Enttäuschung. Er hält es kaum aus, nichts zu tun in diesem Raum, der so viel Melancholie verströmt.“ (S. 187)
Das Rattern und Wanken des Zuges und die fortwährende, mäandernde Bewegung findet sich in einem rhythmisch Fließen der Sprache und des Erzähltons wieder. Wiedergegebene erotische Erlebnisse Baxters sorgen, literarisch ausgefeilt, für Suspense. Die 1967 in Calgary geborene Mayr schafft Bilder der Spannung und der Harmonie und überrascht gegen Ende mit pointierten Wendungen.
2022 wurde Suzette Mayr für ihren sechsten Roman Der Schlafwagendiener mit dem renommiertesten kanadischen Literaturpreis, dem mit hunderttausend Dollar dotierten Scotiabank-Giller-Preis, ausgezeichnet. Die deutschsprachige Übersetzung aus dem Englischen von der im Januar bei einem Verkehrsunfall verstorbenen Anne Emmert ist bereits vergriffen und nur noch in ausgewählten Antiquariaten erwerbbar. Sollte der Roman verdienterweise neu aufgelegt werden, könnten kleine Tippfehler noch korrigiert werden („Sehe sich nichts unrechtes“ S. 198 oben; Dopplungen von Aufzählungen auf S. 126).
Ansgar Skoda - 21. März 2024 ID 14672
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