Wider den
Leseerwartungen
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Bewertung:
Das Erzählte hält in Atem, es passiert recht viel, gleichzeitig werden Folgen zentraler Ereignisse nicht aufgeklärt. Als Leser schlägt man so seine eigenen Schneisen durch einen Wust an Sätzen und Bildern über das Geschehen in Amsterdam. Über Perspektivwechsel erfährt man von unterschiedlichen Blickwinkeln auf einem außergewöhnlichen Schicksalsschlag: Simon verlor noch vor seiner Geburt durch einen Flugzeugabsturz seinen Vater. Dass sich der Vater und der Sohn in vielerlei Hinsicht ähneln, der Schein trügt und die vermeintliche Familientragödie einer Aufklärung harrt, thematisiert der Roman Der Sohn des Friseurs. Doch schlussendlich bewahren die zentralen Charaktere weitestgehend ihr Geheimnis. Im großen und ganzen bleibt so trotz aller Missverständnisse alles beim Alten. Als Leser, der mehr weiß als die Erzählfiguren, wähnt man sich gleich mehrfach in die Irre geführt.
Der niederländische Autor Gerbrand Bakker spielt hier mit Lesererwartungen. Simon, der zentrale Charakter, erscheint relativ ambitionslos. Einer Familientradition folgend übernahm er als Friseur das Metier seines ihm unbekannten Vaters. Er führt so den Friseursalon von dessen Vater, seinem Großvater. Simon frönt den Tagträumen, wenn er etwa gedanklich dem Jugendposter in seinem Schlafzimmer nachhängt – ein Schwimmstar früherer Tage. Früher war er selbst Leistungsschwimmer. Er bedient nur wenige Kunden und geht auch als Erwachsener vormittags lieber schwimmen. Dann dreht er das Schild an der Tür um, und von innen gesehen wird aus OUVERT FERMÉ. (S. 32, S. 34, S. 73). Einmal lernt er unter der Dusche einen anderen Mann kennen, den er zu sich nach Hause einlädt. Doch aus dieser Begegnung, und auch aus einer Affäre mit einem Stammkunden und Verehrer, wird nichts Festes.
Gleich zu Romanbeginn bittet Simons Mutter ihn um Unterstützung, jugendliche Menschen mit geistiger Behinderung in einem barrierefreien Schwimmbecken zu betreuen. Seine Mutter rügt ihn mit dem Wort „indolent“ für den mäßigen Enthusiasmus, mit dem er sich zu dieser Aufgabe überreden lässt:
„Als sie gegangen ist, nimmt Simon nicht wieder das Buch zur Hand. Er öffnet den Laptop und sucht nach Synonymen von indolent. Apathisch. Bräsig. Desinteressiert. Dickfellig. Energielos Faul. Gefühlskalt. Gleichgültig. Kraftlos. Lethargisch. Lustlos. Passiv. Phlegmatisch. Schwerfällig. Teilnahmslos. Träge. Unbeweglich. Unempfänglich. Unsensibel. Willenlos. Zwanzig sinnverwandte Wörter. Unbeweglich bin ich jedenfalls nicht, denkt er.“ (S. 88)
Simon ist dann während der Tätigkeit jedoch durchaus erstaunlich präsent, als einer der Jugendlichen mit geistiger Behinderung dem Mann auf dem Poster in seinem Schlafzimmer ähnlich sieht. Es erwachen im Ich-Erzähler starke Gefühle. Simon fädelt mehrere Momente ein, in denen er alleine mit dem arglosen Jugendlichen sein kann. Die Begegnungen zwischen dem Ich-Erzähler und den Menschen mit Behinderung gehören zu den interessanteren Momenten des Romans. Auch hier werden Erwartungen subtil enttäuscht. Wichtige Details, um das Geschehen besser einordnen zu können, verrät Bakker erst sehr spät. So erfahren wir das fortgeschrittene Alter Simons, den man zuvor wegen seiner Freigeistigkeit und wegen der dominanten Mutter als jünger einordnet, erst in der zweiten Hälfte des Romans: 49 Jahre (S. 222).
Noch erstaunlicher ist jedoch eine Wendung im zweiten Romanteil, bei dem Bakker zur Sicht von Simons Vater, Cornelis, wechselt. So saß Cornelis tatsächlich im Unglücksflug, verließ nach einer ungeplanten Zwischenlandung jedoch die Wechselmaschine vor dem Abflug und überlebte so als Einziger. Cornelis, der von seinem Praktikanten zu diesem Flug überredet wurde und alte Verpflichtungen zurücklassen wollte, nimmt im Ausland eine andere Identität an. Es erscheint recht unglaubwürdig, dass er bald, scheinbar ohne gültige Dokumente wie Pass oder Personalausweis, einen Friseursalon leitet und auch nie mehr Kontakt zu früheren Bekannten oder Freunden aufsucht. Es gibt hier anscheinend auch keine behördlichen Nachforschungen und nur eine diffuse Suche Simons nach seinem Erzeuger.
Bakker deutet stets durch Simons Nachforschungen und Konfrontationen seiner Mutter an, dass es noch zu einer Begegnung von Sohn und totgeglaubtem Vater kommen könnte. Am Ende trifft Cornelis tatsächlich schicksalhaft auf eine Person aus seiner Vergangenheit, die ihn von seinem Sohn erzählt. Die Konsequenzen aus dieser schicksalhaften Begegnung bleiben jedoch offen.
Eine leise Wehmut und unbestimmte Sehnsucht aufgrund der Abwesenheit eines wichtigen Menschen im Leben Simons oder Cornelis hält der Roman so atmosphärisch bis zum Ende durch. Nur selten durchbrechen körperliche Regungen die suggestiven Gefühlswelten dieser, in sich ruhenden Charaktere:
„Was für ein seltsamer Vorgang Erbrechen doch ist, dieses Krümmende, dieses Peristaltische, dieser Zwang, möglichst viel von sich zu geben. Ein Körper, der auf rohe Weise den Geist in Besitz nimmt.“ (S. 142)
Ansgar Skoda - 22. August 2024 ID 14879
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