Anziehungskraft
hochfliegender
Dämonen
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„Ich hörte ein leises, dumpfes Krächzen zu meiner Linken, dann sah ich einen riesigen Vogel, der, in geringer Höhe über den Boden schwebend, seinen Kopf mit dem starken Schnabel, den blitzenden Augen zu mir drehte. Nach einer Weile schraubte er sich mit raschem Flügelschlag in die Höhe und verschwand über dem jenseitigen Ufer des Sees. Am nächsten Morgen fand ich eine große weißliche Feder auf dem Fensterbrett. Bevor wir abreisten, zeigte ich sie einigen vogelkundigen Einheimischen. Sie stammte aus der Armschwinge eines Raubvogels, sagten sie. Aber solche Vögel seien schon seit Jahrzehnten nicht mehr in der Gegend heimisch.“ (S. 197)
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Den Glauben an Drachen und große Raubvögel verbreiteten schon antike Mythen, Legenden oder Sagen. Die unvorhersehbare Gefahr aus der Luft birgt seit jeher in vielen Kulturkreisen ein Faszinosum. Vielen Märchen zufolge rauben drachenartige Fabelwesen auch Menschen. Doch was passiert eigentlich mit diesen Menschen, nachdem sie abgehoben haben, hoch geflogen sind und nun niemand mehr sie erreichen kann? Gelten hier unsere Gesetze noch? Einen Überblick könnte eine gottgleiche Existenz haben. Von der Suche nach dieser Erhabenheit, die sich in vielen kleinen Begebenheiten zu erkennen gibt, erzählt Susanne Röckels leicht ins schaurig-phantastische abdriftender Roman Der Vogelgott. Es sind Stimmungen des Unheimlichen, die spannungsvoll das Geschehen vorantreiben:
„Wie sehr schien sich jeder darum zu bemühen, auf seiner Bahn zu bleiben, die Augen nicht zu weit zu öffnen, den Kopf nicht zu weit nach rechts oder links zu wenden, um nichts Beunruhigendes zu sehen. Oder waren das nur meine eigenen Empfindungen, die ich auf die Welt übertrug? Das Licht hatte sich verändert, war stumpf und fahl geworden; tagelang verbarg sich die Sonne hinter einem milchig-grauen Schleier. Etwas schien mit der Stadt geschehen zu sein, in der ich lebte, sie war anders, weniger gesund, weniger intakt, als ich sie in Erinnerung hatte.“ (S. 200f.)
Thedor, Dora und Lorenz wuchsen als Kinder eines Ornithologen und einer früh verstorbenen Mutter gemeinsam auf. Sie haben sich im Erwachsenenalter voneinander entfremdet. Der Vogelgott wird nach einem Prolog des Vaters jeweils nacheinander aus den Ich-Perspektiven je eines der Geschwister erzählt. Nach dem Tod und der Beerdigung des Vaters gehen sie nur mäßig erfolgreich ihrer Wege. Sie wissen nicht viel voneinander. Sie können so nicht ahnen, dass sie alle drei auf unterschiedliche Weise nacheinander mit einem rätselhaften Kult um einen archaischen Vogelgott konfrontiert werden. Meisterhaft reiht die Autorin die Schicksale der Geschwister aneinander. Da ist der jüngste der Geschwister Weyde, Thedor, der für einen obskuren Auftraggeber in ein unbekanntes, fernes Land reist. Er lernt einen seltsamen Vogelkult der Einheimischen kennen und versucht erfolglos seinen Auftrag abzubrechen. Die ältere Schwester Dora hatte ihn noch gebeten, die Reise ins Ungewisse nicht anzutreten. Diese stößt im Rahmen wissenschaftlicher Recherchen als Kunsthistorikerin auf mysteriöse Bilder grausamer Vogelgestalten, die ihr teilweise nur streng vertraulich unter vorgehaltener Hand gezeigt werden. Der Eindruck von den beschriebenen Bildern bleibt diffus, löst jedoch bei der Protagonistin heftige Reaktionen aus:
„Er ging zu einem Wandsafe, streifte weiße Handschuhe über und holte ein großes Blatt heraus, das tatsächlich auffallend jenen Blättern ähnelte, die ich in New York gesehen hatte. Die Ränder sahen verkohlt aus. Er winkte mich zu einer Ablage an der Wand. Ich stand fast taumelnd auf und ging mit zitternden Knien zu ihm. Ich sah das Bild – und sah es nicht. Es nahm mir den Atem. Ich musste die Augen schließen, verlor das Gleichgewicht. Ich war konsterniert, abgestoßen – aber auch berückt, verzaubert, im Innersten herausgefordert. Wie ich dann wieder zu meinem Platz kam, wie lange das Ganze noch dauerte, weiß ich nicht.“ (S. 161f.)
Der älteste der Geschwister, der Journalist Lorenz, stößt im Rahmen einer Recherche für einen Artikel auf Kinderzeichnungen eines grausamen Vogels. Er ist zutiefst fasziniert und versucht mehr über die Beweggründe für die Zeichnungen zu erfahren. Alle Geschwister verlieren bei ihren beharrlich-zähen Erkundungen bald jedweden Boden und Halt.
Leider gibt es nur wenig Berührungspunkte, bei denen sich die Handlungsfäden ergänzen und überlagern. Vieles bleibt nebulös und ein hinter allem lauerndes Unheil wird meist nur angedeutet. Eine große Stärke des Romans, der es in diesem Jahr auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis schaffte, sind die atmosphärischen Bilder, die einen als Leser oft sprachlos machen:
„Das Flugzeug startete abends. Der Himmel war dunkelblau, leuchtend, die Sonne ein loderndes Feuer, dessen glühende Finger den unaufhörlich fliehenden Erdball berührten, um ihn in Licht zu verwandeln. Ich konnte nicht aufhören, aus dem kleinen Fenster zu starren, bis die Helligkeit sich zu einem immer tiefer werdenden Rot ballte und schließlich verglühte – der Leben spendende Stern verschwunden – unsere Sonne nicht mehr als ein schwacher Streifen Farbe im riesigen Dom der Dunkelheit.“ (S. 53f.)
Ansgar Skoda - 22. Dezember 2018 ID 11116
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Der Vogelgott
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