Die zwanghafte
Unterdrückung
alles Lebendigen
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Bewertung:
„Die Nachbarn und die anderen Leute des Ortsteils sollen sehen, wir sind eine ordentliche Familie, das Kind ist brav und folgsam, es besucht vorbildlich den Gottesdienst. Darüber hinaus ist der Kirchgang der Gradmesser für meinen Gehorsam. Mutter und Oma Lena stellen ihre Befehlsgewalt unter Beweis“, Andreas, 7Jahre alt, 1968 (S. 246)
Die Königin von Troisdorf – Wie der Endsieg ausblieb ist als Kriegsenkelroman konzipiert. Der 1961 geborene Autor, Filmemacher und Fotograf Andreas Fischer hat sich schon häufiger in seinen Arbeiten mit der Kriegstraumatisierung der Generationen vor ihm und deren Auswirkungen auseinandergesetzt. Hier arbeitet er – mit den Freiheiten eines Romans anstatt eines Sachbuchs – drei Generationen seiner Familiengeschichte auf, inklusive seiner eigenen. Über den größten Teil seines Lebens thront Andreas Fischers Großmutter Lena als uneingeschränkte Herrscherin über die Familie. Ihr zur Seite steht Opa Paul, der aber stirbt, als Andreas noch sehr jung ist und das gar nicht begreifen kann. Erklärt wird ihm nichts. Lena und Paul hatten drei Kinder: Hilde, Günther und Ilse. Hilde ist kinderlos mit Bruno verheiratet, Günther ist im Krieg gefallen, und Ilse wurde 1931 zu einer Zeit geboren, als ein zusätzlicher Esser ein Problem darstellte.
Alle Erwachsenen in Andreas' direktem Umfeld sind unterschiedlich schwer kriegstraumatisiert. Oma Lena hasst ihren Enkel offensichtlich und lässt ihn das auch stets spüren. Warum, wird er nie erfahren? Vielleicht, weil er nicht so hart wie sein Onkel Günther ist, weil er das Kind der zusätzlichen Esserin Ilse ist, oder weil Oma Lena zwei Weltkriege miterlebt, Hunger, Durst, Verlust, Todesangst und alles Kriegsbedingte zweimal mitgemacht hat und ihrem Enkel nicht zu gönnen vermag, dass es ihm besser geht. Dass die Empathie- und Lieblosigkeit zu Hause ihm Qualen bereitet, zählt nicht, er soll sich nicht so anstellen, es ginge ihm doch gut. Einzig Tante Hilde ist ihm zugetan, versorgt ihn nach der Schule, wenn er Hausaufgaben macht, und ist der emotionale Anker während seiner Kindheit. Seine Eltern betreiben von früh bis spät ein Fotoatelier. Sie schuften und häufen Wohlstand an, kaufen Häuser, bauen ein Mietshaus und könnten sich alles leisten. Aber nach der Arbeit ist Mutter Ilse ausgelaugt und müde, und Vater Reinhold setzt sich mit Korn und Zigaretten bewaffnet in die Küche und betrinkt sich. Trotzdem sucht Andreas immer wieder seine Nähe, und die beiden haben auch schöne Momente, wenn man von den Auswüchsen der Trinkerei absieht. Aber Lena und die ihr völlig ergebene Ilse sind eine unüberwindliche Wand. Andreas vergleicht sie mit den Generälen Hindenburg und Ludendorff im Ersten Weltkrieg.
„Ich habe zu gehorchen, nur ein gehorsames Kind ist ein gutes Kind. Ich habe nichts zu wollen und schon überhaupt nicht etwas nicht zu wollen. Ein Infragestellen der Befehlsgewalt bedeutet für Hindenburg und Ludendorff Hochverrat, eine Gefährdung der Herrschaftsstruktur an und für sich, und an dieser Stelle kennt die Oberste Heeresleitung kein Pardon.“ (S. 246)
Der gefallene Onkel Günther wird im Buch anhand seiner Feldpostbriefe vorgestellt. Er ist ein eifriger Soldat und will ein Kriegsheld werden, er will sich beweisen und seine Eltern stolz auf sich machen. So ist er derart erfolgreich, dass er als Ausbilder ausgebildet wird. Dem kann er sich nicht verweigern, aber er will unbedingt Pilot werden und an der gefährlichsten Schlacht, dem anstehenden Luftkrieg gegen England, teilnehmen. Günther ist überwiegend im Osten eingesetzt während eines strengen Winters, in dem Menschen auch erfrieren. Die Essensrationen sind sehr karg, aber Günther begrüßt alle Härten als Möglichkeit, seine Tapferkeit, Pflichterfüllung und seinen Gehorsam unter Beweis zu stellen. Seine Mutter Lena ist erfreut, dass ihre Erziehung bei Günther so erfolgreich war. Gedanken, dass sie zu seinem Fanatismus und Selbstaufopferungswahn beigetragen haben könnte, dürfen da gar nicht erst aufkommen.
Nach dem Krieg erfüllt die katholische Kirche für die Frauen die Aufgabe des untergegangenen Regimes. Autoritätsgläubigkeit, wie die Verehrung von Pfarrern, Lehrern, Ärzten und Höhergestellten, eine völlige Unterwerfung an Dogmen und gesellschaftlich geforderte Regeln bis hin zu einer weitgehenden Selbstaufgabe gestalten das Leben übersichtlich. Vor allem braucht man keine Eigenverantwortung zu übernehmen. - Nachdem sein Vater ihm eines Tages die „Wahrheit“ erzählt hatte, dass alle lügen, Deutschland den Krieg nicht angefangen hätte, die Judenvernichtung erfunden sei, glaubt Andreas ihm zunächst, wird aber anderweitig belehrt. Es kommt zu einem Einzelgespräch mit einem Pfarrer, der ihm geduldig erklärt:
„Wenn man anerkennt, dass man betrogen worden ist, muss man anerkennen, dass man sich hat betrügen lassen. Es gehört Kraft dazu, dem ins Auge zu sehen und Größe. Die hat leider nicht jeder.“ (S. 389)
Die Unfähigkeit der älteren Generationen, sich dem eigenen Schmerz und der eigenen Verantwortung bzw. Verantwortungslosigkeit zu stellen, wirkt sich auf den einzigen Sprössling der nächsten Generation negativ aus, der eines Tages sogar aus Verzweiflung sein Testament schreibt. Andreas Fischer nimmt uns in seinem Roman mit auf die Reise seiner Befreiung aus dem Würgegriff der Bevormundung und der Unterdrückung all dessen, was in ihm lebendig, kreativ und empfindsam ist. Obwohl der Begriff "transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumatisierungen" nicht auftaucht, schildert er genau das. (Wie diese geschieht, wird in dem Film Who's Afraid of Alice Miller? genau erklärt. )
Der Roman fasziniert auch durch die Schilderung der 1970er Jahre, die gesellschaftlichen Umbrüche, die Erfindung von Technik, wie Tonbandgeräte für den privaten Gebrauch, später Kassettenrekorder, und den Aufbruch in eine modernere Zeit. Mittendrin Andreas, der nicht vorhat, zum Wehrdienst anzutreten, sondern aus Gewissensgründen Zivildienst leisten will...
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Mit Die Königin von Troisdorf bringt Fischer der Leserschaft die Befindlichkeit der Kriegsenkel näher, forscht in der Familiengeschichte nach den Ursachen und tut das, was ihm strengstens verboten wurde. Obwohl „Hindenburg und Ludendorff“ immer schwere Geschütze aufgefahren haben, um genau das schon im Vorfeld zu verhindern, hinterfragt Fischer die Dinge und scheut die kontroverse Auseinandersetzung mit verschiedenen Themen nicht. Denn ohne das ist eine Verarbeitung der Geschichte und die Übernahme von Verantwortung nicht möglich, und damit können sich für die Kriegsenkel und Kriegsenkelinnen Räume öffnen, die eigene Traumatisierung zu erkennen und zu überwinden.
Helga Fitzner - 31. März 2022 ID 13551
https://www.eschen4.de/troisdorf-der-roman/
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