Mit kleinen
Stichen in die
Vergangenheit
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Bewertung:
Mechanische Nähmaschinen kommen robust daher. Anders als die modernen Hightech-Geräte mit komplizierter Elektronik trumpfen die gusseisernen Elemente von alten Tret- und Kurbelmaschinen schier zeitlos auf, und die meisten dieser fast musealen Stücke sind nicht nur formschön, sondern versehen auch noch nach über 100 Jahren ihren Dienst. Ich selbst habe eine mechanische Singer-Nähmaschine, und nach der Lektüre des Buches werde ich recherchieren, wie viele Jahre sie bereits auf dem Buckel hat. Als ich sie vor 45 Jahren bei der Auflösung eines Nähzirkels überlassen bekam, war sie schon alt, sehr alt sogar, funktionierte aber damals wie heute einwandfrei, und ich erledige die kleinen Näharbeiten, die in Haushalt anfallen, schnell und zuverlässig mit diesem Gerät.
Solche Nähmaschinen könnten etwas erzählen. Natalie Fergie verleiht einer von ihnen ihre Stimme, eine Singer 99K hat etwas zu sagen - über die Frauen, die an ihr nähten und die, die bei ihrer Herstellung mithalfen.
So lernen wir Jean kennen, die 1911 in der Endkontrolle der großen Singer-Nähmaschinen-Fabrik in Clydebank Schottland arbeitet. Es ist das Jahr des großen Massenstreiks.
"'Ich werde streiken, verlass dich drauf.'
Er lächelte sie an. 'Ich hätte nie an dir zweifeln sollen. Tut mir leid.'
Sie waren die Letzten, die gingen, und als Jean zu den leeren Stuhlreihen blickte, dachte sie, es war, als hätte die Versammlung nie stattgefunden. 'Machst du dir Sorgen wegen morgen?'
'Sorgen, nein. Wir sind im Recht. Das werden sie bald einsehen.'
'Ja, aber Männer wie meinen Vater zu überzeugen, durch die Tore zu gehen, wird nicht einfach.'
'Alle wichtigen Dinge im Leben müssen erkämpft werden.'" (S. 25)
Der Kampf ist für Jean und ihren Freund Donald nicht erfolgreich. Die Werksleitung bleibt unnachgiebig, und die Rädelsführer, so auch Donald, werden gekündigt. Als Querulanten haben sie Schwierigkeiten in Clydebank neue Arbeit zu finden. Das Paar verlässt die Stadt, ihre Heimat, und zieht mit neuen Hoffnungen nach Edinburgh.
Das Leben zu Anfang des letzten Jahrhunderts ist hart, der Erste Weltkrieg fordert zudem seine Opfer, und Donald verliert im Feld seinen linken Arm. Liebe und Zuversicht, aber auch die Scottish Veterans Garden City Association, die Veteranen Wohnraum bietet, hilft dem jungen Paar wieder in geordnete Bahnen zurückzukehren.
Doch diese Rückschau allein wäre nicht die Geschichte der Nähmaschine. Jean versteckt noch an ihrem letzten Arbeitstag in den Singerwerken in Clydebank eine geheime Botschaft in der von ihr kontrollierten Maschine. Und diese Maschine verfolgen wir über vier Generationen hinweg, finden Arbeitsbücher mit Stichproben und lernen die Frauen, die an der Maschine nähen, genauer kennen. Zuletzt landen wir bei Fred, der die Maschine von seiner Oma erbt und ein ungewöhnliches Interesse für das Nähen entwickelt.
Am Ende finden seine Familiengeschichte und die von Ellen, einer Urenkelin von Jean, in den Erzählfäden zusammen. Beide sind in besonderer Art und Weise über die Nähmaschine mit einander verbunden und entwickeln eine gemeinsame Leidenschaft.
*
Die Nähmschine ist ein Buch für Frauen, auch wenn Fred als Mann an der Maschine arbeitet. Nähen bedeutete insbesondere für Frauen Geldverdienen und Geld einsparen. Die Schotten sind geizig, heißt es gemeinhin, im Buch sind sie sparsam und bilden ein gesundes Gegenstück zur modernen Wegwerfgesellschaft. Kleidung wird eben nicht nur für ein oder zwei Jahr(e) gekauft, sie wird gepflegt, geflickt oder umgearbeitet, und selbst der Stoff daraus kann für neuer Textilien Verwendung finden. Eine Strategie, die heute auch aus Umweltschutzgründen ihre Berechtigung hat und die hier mit Lust und Leidenschaft vorgetragen wird.
Ellen Norten - 17. Juni 2019 ID 11507
Link zum Roman
Die Nähmaschine
Post an Dr. Ellen Norten
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