Hitlers
heute
hochgeschätzten
Helfer
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„Verführt von einer kleinlichen und gefährlichen Nationalidee ohne Zukunft streckt die gewaltige, von einer früheren Niederlage frustrierte Menge ihren Arm in die Luft. Dort, auf dem Balkon des Sissi-Palasts: Hitler. Mit einer furchtbar fremden, dramatischen und beunruhigenden Stimme endet seine Rede in einem heiseren, unerquicklichen Schrei. Er krakeelt ein Deutsch, das der später von Chaplin erfundenen Sprache sehr ähnlich ist, voller Verwünschungen, aus denen sich nur einzelne Wörter abheben: 'Krieg', 'Juden', 'Welt'.“ (Éric Vuillard, Die Tagesordnung, S. 99)
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Schon Thomas Bernhards umstrittenes Drama Heldenplatz (1988) lädt das Jubeln der Menschenmassen auf dem Wiener Heldenplatz, welche im März 1938 Hitlers Einzug feiern, mit unheilvoller Bedeutung auf. Die Euphorie beim sogenannten Anschluss Österreichs, mit dem österreichische und deutsche Nationalsozialisten die De-facto-Annexion des Bundesstaates Österreich durch das Deutsche NS-Reich veranlassten, thematisiert auch Die Tagesordnung (2018) des 50jährigen französischen Schriftstellers Éric Vuillard. Der Autor verweist darauf, dass die Bilder von den „unglaublichen Ovationen bei den Auftritten des Führers“ erst nachträglich mit Ton unterlegt wurden, „mithilfe der sogenannten Overdub-Technik“ (S. 100). Vuillard erinnert hier daran, dass das persönliche Verständnis von Geschichte immer bereits beeinflusst ist und so auch nur eingeschränkt das Vergangene beurteilen kann.
In sechzehn lustvoll explorierten, zugespitzten und kurzweiligen Episoden spürt der Autor den Mechanismen des Aufstiegs der Nationalsozialisten nach. Mit künstlich wirkenden, älteren Wörtern - wie „Lustwandeln“ (S. 50), „menschliche Seele“ (S. 83), „Herrgottsfrühe“ (S. 83), „pomadige“ (S. 83) und „lupft“ (S. 99) - ruft die Übersetzung aus dem Französischen von Nicola Denis romanhaft vergangene Zeiten in Erinnerung. Wie ein „Requisiteur der Geschichte“ (S. 95) erinnert Vuillard knapp, bildreich und erhellend an den österreichischen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, der 1938 unter dem Druck der Nationalsozialisten klein beigab. Schilderungen der groben, penetranten und gleichzeitig effizienten Bluffs der Nationalsozialisten, die Schuschnigg einschüchtern, muten komisch an. Schuschnigg nahm die weitreichenden Konsequenzen eigener Feigheit und Bequemlichkeit nur ungenügend in Augenschein, was ihm später auch nicht unbedingt zum Nachteil gereichen sollte. So problematisiert Vuillard, das Schuschnigg, trotz seiner Schwachheit in einem ganz entscheidenden Moment, später als Professor für Politikwissenschaften unterrichten und sich in seinen Memoiren auf einer Alternativlosigkeit seines Tuns ausruhen konnte.
Éric Vuillard führt in seinem Prix Concourt-gekrönten und unterhaltsam-kurzweiligen Werk wichtige weniger bekannte Helfer der Nationalsozialisten vor. Diese illustren Unterstützer rangieren auch heute noch als Marken von Rang und Namen auf dem Weltmarkt und halten mit ihrer dunklen Vergangenheit gerne hinterm Berg. Vuillard beschreibt, wie erschreckend einvernehmlich und konfliktfrei Hitler offensichtlich am 20. Februar 1933 hochrangige Vertreter der Industrie während eines Geheimtreffens im Reichspräsidentenpalais als Geldgeber gewinnen konnte. Es ist schon höchst bemerkenswert, dass nicht nur Gustav Krupp dann im Gegenzug seinen Gewinn aus dem grausamen und menschenverachtenden NS-Regime des dritten Reiches ziehen sollte:
„Jahrelang hatte er in Buchenwald, Flossenbürg, Ravensbrück, Sachsenhausen, Ausschwitz und einer ganzen Reihe anderer Lager Deportierte gemietet. Ihre Lebenserwartung betrug wenige Monate. Wenn der Häftling nicht einer der Infektionskrankheiten erlag, verhungerte er buchstäblich. Krupp war jedoch nicht der einzige, der derlei Dienste in Anspruch nahm. Auch seine Kumpane des Geheimtreffens vom 20. Februar nutzten sie; hinter den verbrecherischen Leidenschaften und der politischen Gestik wurden dabei ihre Interessen bedient. Der Krieg war profitabel gewesen. Bayer pachtete Arbeitskräfte in Mauthausen. BMW beschäftigte in Dachau, Papenburg, Sachsenhausen, in Natzweiler-Struthof und in Buchenwald. Daimler in Schirmeck. Die I.G. Farben stellte Personal aus Mittelbau-Dora, aus Groß-Rosen, Sachsenhausen, Buchenwald, Ravensbrück, Dachau und Mauthausen ein und betrieb außerdem eine gigantische Fabrik im Lager von Ausschwitz: die I.G. Ausschwitz, die unter diesem Namen schamlos im Organigramm des Unternehmens figurierte. Agfa bediente sich in Dachau. Shell in Neuengamme. Schneider in Buchenwald. Telefunken in Groß-Rosen und Siemens in Buchenwald, in Flossenbürg, Neuengamme, Ravensbrück, Sachsenhausen, Groß-Rosen und Ausschwitz. Alle haben sich begeistert auf derart preiswerte Arbeitskräfte gestürzt.“ (S. 113-114)
Ansgar Skoda - 2. Juli 2018 ID 10785
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