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„Der Wächter eines Irrenhauses litt, weil seine Liebe nicht erwidert wurde. Er vergaß, das Tor zu verriegeln. Alle Insassen, 222 an der Zahl, brachen aus und waren in den Straßen der Stadt verstreut wie Körner. Der Arzt der Irren sagte der aufgebrachten und verängstigten Bevölkerung, sie sollten ihm eine Pfeife beschaffen, die wie eine Zugsirene töne. Aber noch wichtiger sei, dass die Männer einer den anderen am Rücken festhalten sollten, wie Zugwaggons. Der Arzt ging mit der Sirene voraus, viele Männer folgten ihm. Nach drei Runden durch die Straßen steuerte er direkt aufs Irrenhaus zu. Im Hof blickte er zufriedene Gesichter der Irren. Er ließ den Wächter zählen. Er staunte, als er ihm sagte, dass sich 444 Männer im Hof fänden.“

(Yusuf Yeşilöz, Die Wunschplatane, S. 110)


*

Erstaunlich offen, lebendig und mitunter verrätselt muten fremdländische Erzählungen manchmal an. Erzählen kann eine ordnende Funktion haben, bilderreich lässt sich jedoch auch auf befreiende Weise einem Heimatgefühl und eigener Wehmut nachspüren. Das Bedürfnis des Erzählens steht im Zentrum des jüngsten Romans des kurdisch-schweizerischen Autors Yusuf Yesilöz. In Die Wunschplatane gibt es gleich mehrere unterschiedliche Erzähler und eine Vielzahl der Erzählebenen.

In einer Schweizer Kleinstadt unterrichtet der Icherzähler, ein kurdischer Schriftsteller und wahrscheinliches Alter Ego von Yeşilöz, eine Woche lang Gymnasiasten im Kreativen Schreiben. Erzeugnisse der Schüler werden textimmanent wiedergegeben. Doch Fiktion und Realität überlagern sich. Ebendieser Schriftsteller macht in der Kleinstadt nämlich auch neue Bekanntschaften. So erzählen ihm seine Zimmerwirtin Regine und der Inhaber eines Kebabimbisses, Safir, freimütig von eigenen Schicksalsschlägen und Seelennöten. In wiedergegebenen Träumen des Icherzählers werden die erzählten Begebenheiten dann noch behutsam weiterverfolgt.

Insbesondere die im Roman eingeflochtene Überwindung von Homophobie am Beispiel des türkischen Kebab-Laden-Besitzerpärchens ist spannend, da schwule Liebe in der Türkei nach wie vor tabuisiert wird. Jahre zuvor hatten Safir und seine Frau Narin die Homosexualität ihres Sohnes Beyto nicht akzeptiert. Sie hatten in seinem Heimatdorf eine Ehe mit seiner Kusine arrangiert. Ihr Sohn brach daraufhin mit seinen Eltern und zog ins Ausland.


„Obwohl beide wussten, dass es falsch war, beschlossen sie einen Monat später, alles zu unternehmen, um ihren Sohn auf den »richtigen« Weg zu bringen. Sie wollten Beyto zu einem angeblich bekannten Arzt nach Istanbul schicken, der sich in den Zeitungen damit brüstete, Männer auf den richtigen Weg gebracht zu haben. Beyto sollte von seiner Homosexualität geheilt werden, ein Kollege von Safir hatte alles organisiert, Flugtickets, Hotel und einen Begleiter. Nur Beyto fehlte und tauchte nie mehr auf.“ (S. 103)


Hier knüpft Yeşilöz an das Sujet eines Vorgängerromans an. In Hochzeitsflug (2011) schilderte er bereits ausführlich aus der Perspektive von Beyto dessen Zwangsverheiratung und die damit einhergehenden tragischen Abgründe.

Leider bleiben die Erzählebenen in Die Wunschplatane weitestgehend disparat und der Handlungsfaden verliert sich immer wieder. Insbesondere die Aufsätze aus dem Schulunterricht behindern etwas den Erzählfluss.

Yeşilöz wurde selbst mal in der Türkei verhaftet, weil er auch in kurdischer Sprache veröffentlichte. Mit einem gewissen Mut, Anekdotenreichtum und einer metaphernreichen Sprache erzählt der Winterthurer Schriftsteller nun warmherzig davon, wie sich eingeschränkte Sichtweisen von der Welt weiten und Eltern sich mit der Lebenswirklichkeit ihrer Kinder abfinden können:


„Beyto wollte nicht zurückkehren. Er sagte seinem Vater, wie oft er in seinem Leben an Selbstmord gedacht hatte und fragte ihn, ob auch er schon einmal daran gedacht habe. »Jeder Mensch tut das mindestens einmal im Leben«, antwortete Safir. Die Begegnung half ihm, Beyto in Ruhe zu lassen. »Von Kindesbeinen an werden einem Träume mitgegeben, in diese Schablonen muss dann dein Leben passen. Plötzlich, wenn sie nicht real werden, gerätst du in einem Albtraum, wie in meinem Fall. Erst wenn dieser Traum ausgeträumt ist, lebst du weiter.« »Safir, hast du ihn besucht, bist du tatsächlich dort gewesen? Oder erzählst du mir einen Traum?« »Ja und nein. Nimm die Antwort mit, die dir besser gefällt.«“ (S. 194)


Ansgar Skoda - 10. Oktober 2018
ID 10967
Link zum Buch: https://www.limmatverlag.ch/programm/titel/822-die-wunschplatane.html


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