Wichtige
Worte,
intellektuell
verpackt
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Bewertung:
Zweiunddreißig Jahre nach der Wende – oder sollte hier ein anderes, besseres Wort stehen, das den Vorgang beschreibt, der zur heutigen Bundesrepublik führte? Also zweiunddreißig Jahre danach gibt es ein solches Wort nicht, und die beiden deutschen Seiten sind immer noch deutlich voneinander zu unterscheiden. Laut Dirk Oschmann, dem ausgewiesenen Literaturwissenschaftler, spiegelt sich bereits in der Sprache ein Wertegefälle wider, in dem der dominante Westen den Osten immer noch als eine Art unterentwickeltes Anhängsel versteht.
Oschmann ist keineswegs Verlierer der Deutschen Einheit, 1967 in Gotha geboren arbeitet er heute als Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig. Doch Oschmann gehört einer Minderheit an:
"Im Hinblick auf die Alterskohorte verweise ich hier nochmals auf neuere soziologische Studien, in denen nachgewiesen wurde, dass die seit 1990 gesamtgesellschaftlich mit am meisten benachteiligte Gruppe die der ostdeutschen Männer, insbesondere der Jahrgänge 1945-1975 ist, das heißt die erste und zweite männliche Nachkriegsgeneration der DDR. Also präzise diejenigen, die von den sozialen und leider auch öffentlich-rechtlichen Medien besonders gern als Wutbürger, AfD-Wähler, Nazis, Rassisten oder einfach als unzurechnungsfähige stammelnde Primaten hergerichtet und zugerichtet werden." (Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, S. 71)
Deutliche Worte, die ich mir in diesem Buch noch öfter wünschte, denn immer wieder lässt Oschmann insbesondere zu Beginn den Intellektuellen durchschimmern. Da wird mit Fremdworten geradezu um sich geworfen, und ich lasse mir mit offenem Google-Programm deren Bedeutungen anzeigen. Hier befürchte ich, dass Oschmann dem selbst geschilderten Klischee entweichen will, kein banaler Ossi zu sein, sondern der Universitätsprofessor, der avantgardistisch für die Frankfurter Rundschau schreibt und mit seinem Artikel nicht nur Aufsehen erweckte, sondern dies gleich zu diesem Buch ausweiten konnte; ein Spiegel-Bestseller Platz 1. Doch dies ist eigentlich die einzige Kritik am Buch.
Oschmann ist sich selbst gegenüber ehrlich. Als gebürtiger Thüringer steht er zwischen einer distanzierten und einer persönlichen Betroffenheit, wobei er letztere uneingeschränkt eingesteht. Doch wie steht es bei uns, dem Leser, der hüben wie drüben aufgewachsen ist?
"Jeder Westdeutsche, der schon lange im Osten lebt, möge sich fragen, ob er oder sie sich getroffen fühlt, wenn mal wieder 'der Osten' kritisiert wird, oder ob es da nicht eine Restreserve gibt, ein Hintertürchen, durch das man notfalls schlüpfen kann, wenn man zwar im Osten lebt, aber doch aus dem Westen kommt und sich im Stillen sagen darf, dass man eigentlich Westdeutscher ist und bleibt." (S. 79)
Die Frage zielt ins Herz. Ich selbst bin vor sieben Jahren aus Gelsenkirchen nach Halle gezogen, als ehemaliger Wessi nun also im Osten beheimatet, und ich fühle mich wohl, möchte nicht zurück und schätze das Uncoole und Unaufgeregte der Menschen hier. Doch meine Heimat bleibt das Ruhrgebiet, hier wuchs ich auf, wurde geprägt, und dass lässt sich nicht ändern. Aber wie steht es um die Identifikation? Natürlich fühle ich mich heute als Hallenserin, doch ich könnte einer Diskriminierung ausweichen, und auch wenn ich es vermutlich nicht täte, so existiert eben doch dieses von Oschmann zitierte Hintertürchen des Westlers.
Und: Die Menschen, die aus der DDR stammen, haben weniger Geld, so pauschal kann man es leider ausdrücken und Geld bedeutet eben auch Ansehen und Macht.
"Heute gibt es kein Gebiet in Europa, in dem der Bevölkerung so wenig von dem Grund und Boden gehört, auf dem sie lebt, in der so wenige Immobilien und Betriebe ihr Eigen nennen können, wie im Osten Deutschlands.“ (S. 121)
Die Gründe dafür sind vielfältig, doch liegen sie nicht in der „Schuld“ der Menschen im Osten. So durfte in der DDR kein Privat-Vermögen aufgebaut werden, was sich heute eben auch in geringen Erbschaften niederschlägt, und der Verdienst der Menschen liegt heute mit rund 22,5 Prozent unter dem der Personen im Westen. Das ist alarmierend!
Das Buch ist wichtig, und es ist gut, dass es von sich Reden macht. Doch vermutlich lesen es in Hauptsache die Menschen, die aus dem Osten stammen, die ihre Situation kritisch hinterfragt sehen. Für den Menschen aus dem Westen zeigt sich die Notwendigkeit der Lektüre nicht.
"Die Chefposten sämtlicher größerer Regionalzeitungen im Osten werden weiterhin von Westdeutschen besetzt, mit deren Perspektiven, deren Überzeugungen, deren Agenda. Hinzu kommt, dass fast keine der größeren Zeitungen Regionalbüros unterhält." (S. 105)
Die Frage ist, ob das Buch unter diesen Umständen etwas bewirken kann? Es wäre mehr als wünschenswert - und um ehrlich zu sein: Es ist eine Schande, dass es ein solches Buch überhaupt geben kann und muss.
Ellen Norten - 29. November 2023 ID 14500
Ullstein-Link zu
Der Osten: eine westdeutsche Erfindung
Post an Dr. Ellen Norten
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