Der verlorene
Sohn
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18. Juni 1953, ein Tag nach dem Volksaufstand in der DDR, wird der Betriebsleiter Martin Baumgart tot auf dem Gelände der VEB Rohrisolation Dresden gefunden. Ein Lynchmord liegt nahe, denn der ehemalige Firmeninhaber wurde mit firmeneigener Glaswolle erstickt.
"Die Augen des Toten waren völlig verklebt von den Glasfasern, waren gerötet, zerstochen, so wie das ganze Gesicht. Heller entfernte so viele Fasern wie nur möglich. Auch die Haare hatte die Wolle verfilzt, die Ohren- und Nasenlöcher verstopft. Heller zögerte kurz und begann dann, die Glaswolle aus Baumgarts Mund zu entfernen. Der Kiefer des Toten war gerade so weit geöffnet, dass ein Finger hineinpasste. Reimann, der herangekommen war, stöhnte auf und wich langsam wieder zurück. Auch Bech hatte ein wenig von seinem Schneid verloren. Selbst die zwei Uniformierten, die den Toten gerade noch an Händen und Füßen gepackt hatten, wurden ganz still. Die Menge Wolle, die Heller aus der Mundhöhle des Toten herauszog, schien schier unerschöpflich zu sein." (Frank Goldammer, Juni 53, S. 22)
Doch so einfach ist es nicht, und Max Heller würde sich in seinem fünften Fall nicht treu bleiben, wenn er nicht auch ganz andere Zusammenhänge und Motive überprüfen würde. Schon bald wird deutlich, dass neben den offensichtlichen Zusammenhängen zwischen den Angestellten im Werk und den Arbeitern noch ein ganzes Netzwerk von unterschiedlichen Interessenvertretern besteht. Eine zentrale Rolle dabei spielt die Stasi, die ihre Macht brutal demonstriert.
So gerät Heller bei seinen Ermittlungen immer wieder unter Beschuss. Heller, der ohnehin kein Parteimitglied ist, wird von Stasioffizier Hermann Bech ganz offen bedroht. Tragisch für den Kommissar zudem, dass auch sein eigener Sohn bei der Stasi Karriere macht und seine berufliche Laufbahn nicht für den Vater gefährden will.
Neben einem spannenden Kriminalfall, bei dem bis zum Schluss offen bleibt, wer nun eigentlich der Täter ist, führt uns der Autor in die frühen Jahre der DDR. Ob sich die Eingriffe ins Privatleben der einzelnen Menschen und Bedrohungen wirklich in dieser Härte zugetragen haben, kann aus meiner Sicht nicht beurteilt werden. Vermutlich unterschied sich dies danach, inwieweit der Einzelne kooperierte oder sich einfach keine Konfliktpunkte ergaben. Bei einem Polizeimitarbeiter wie Heller dürfte der Balanceakt zwischen Arbeit und Parteidoktrin außerordentlich schwierig gewesen sein, wenn dieser keine Zugeständnisse an die Staatsgewalt machen wollte.
Neben dem Mordfall geht es auch um ein Familiendrama, an dessen Ende die Entscheidung steht die Republik durch Flucht zu verlassen, zumal Hellers Frau nur zu gerne zu ihrem anderen gemeinsamen Sohn Georg in den Westen gehen würde.
Der Roman schildert die perfiden Machenschaften der Stasi, zeigt, wie ein aufrechter Charakter zwischen den Fronten zerdrückt werden kann, und deutet die Ausweglosigkeit für den an, der nicht zu Kompromissen und Mitläufertum bereit war.
Der Kommissar bleibt bei allen Verbrechen, die es aufzuklären gibt, zutiefst menschlich. Hier tritt kein überdrehter Ermittler zu Tage, dem Familienleben und private Verantwortung nichts bedeutet. Er hat mit seiner Frau die elternlose Anni adoptiert, und die Familie kümmert sich um Frau Marquardt, die demente Vermieterin, die die Obdachlosen nach dem verheerenden Brand in der Bombennacht in Dresden bei sich aufgenommen hat.
Wird es weitere Fälle für Kommissar Heller geben? Sein Kriegsleiden lässt für ihn keine Verfolgungsjagden zu, und seine politischen Ansichten stellen ihn kalt. Jüngere Kollegen, die der SED beigetreten sind, überholen ihn in seiner Laufbahn. Es bleibt abzuwarten, ob Heller den Kampf gegen Partei und Stasi durchhalten kann und seinen sechsten Fall in der DDR lösen wird.
Ellen Norten - 15. April 2021 ID 12856
dtv-Link zu
Juni 53 von Frank Goldammer
Post an Dr. Ellen Norten
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