Minutiöse
Lebensbeschreibung
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Sonderbare Wege der Literaturrezeption: Ernst Jandl, den der harte Kern der Wiener Gruppe, H. C. Artmann, Gerhard Rühm, Konrad Bayer, Oswald Wiener und Friedrich Achleitner, einst nicht als einen der Ihren anerkennen wollte, hat sie in der öffentlichen Wahrnehmung alle überlebt. Hans Haider, 34 Jahre lang Kulturredakteur in verschiedenen Funktionen bei der Wiener Tageszeitung Die Presse, hat nun eine monumentale Biographie auf luxuriösem Tiefdruckpapier vorgelegt unter dem nüchternen und zugleich, wie es sich bei diesem Gegenstand gehört, wortspielerischen Titel Ernst Jandl 1925-2000. Eine konkrete Biographie.
Haider folgt, beginnend mit Jandls Geburt am 1. August 1925 und einer Skizze von seinen Großeltern und Eltern, dem üblichen chronologischen Schema. Die Fülle an aus eigenen Begegnungen und Erfahrungen und aus fleißigen Recherchen zusammengetragenen Fakten steht einer lebendigen, plastischen Darstellung nicht im Wege.
Schnell gelangt Haider zu dem Punkt, von dem an er die schriftstellerischen Unternehmungen des jungen Jandl mit dessen äußerlicher Biographie verknüpfen kann. Er benennt Freundschaften und Bekanntschaften, die zugleich für Jandls literarische Entwicklung von größerer oder geringerer Bedeutung waren. Da nimmt Andreas Okopenko eine hervorragende Position ein. Dass Jandls Lebensgefährtin Friederike Mayröcker weniger Raum bekommt, als mancher Leser erwarten mag, hat seinen guten Grund: Jandl hatte sich explizit gegen eine Doppelbiographie geäußert. „Wir betrachten uns nicht als ein ‚schreibendes Paar‘.“
Zu den internationalen Kollegen, denen Jandl begegnet ist, zählen solche Größen wie Alan Ginsberg, Raoul Hausmann und Pierre Garnier. Aber Jandls Vorlieben richteten sich nicht nach dem damals gängigen Kanon.
Bedenkenswert ist eine, von Haider allerdings als Übertreibung eingestufte Stellungnahme von 1963: „Bense, Döhl, Heißenbüttel, Helms, Kriwett [sic!] und Mon haben, als Praktiker und Theoretiker dieser neuen Dichtung, in der Deutschen Bundesrepublik, vor allem unter der intelligenten Jugend, eine neue geistige Haltung geschaffen und durch Dichtung die weltanschauliche, politische und gesellschaftliche Orientierung dieser Jugend entscheidend mitbestimmt.“ Damit positionierte sich Jandl gegen Hans Magnus Enzensberger, dem er Peter O. Chotjewitz, jedenfalls zeitweilig, vorzog. Aber die Liste verweist auch auf Vorbilder jenseits der Wiener Gruppe.
Wie kurzlebig unser literarisches Gedächtnis ist, offenbart sich durch die zahlreichen von Haider genannten Dichter, Schriftsteller und Kritiker, deren Namen zu Jandls Lebzeiten im deutschsprachigen Raum jedem Interessierten vertraut waren und die heute, zugunsten geringerer Talente, großenteils vergessen sind. Wer kennt noch die tschechischen „Konkreten“ Hiršal und Grögerová, den Österreicher Heimrad Bäcker, den für das Hörspiel wie für die politische Prosa erheblichen Chotjewitz eben, den Kritiker und Bielefelder Universitätsprofessor Jörg Drews, den Verleger Klaus Ramm und ihre Bedeutung für die Literatur der Nachkriegsjahre?
In Vergessenheit geraten sind auch die prekären Lebens- und Wohnverhältnisse für Dichter vom Format eines Ernst Jandl. Daran hat sich nicht viel geändert, aber angesichts der Homestories von Bestsellerautoren in bunten Magazinen ist es wichtig, der Verklärung die beschämende Wirklichkeit gegenüberzustellen. Ein Foto von 1975 zeigt Jandl als späten Verwandten von Spitzwegs "Armem Poeten“ in seiner 29- Quadratmeter-Wohnung.
Die Biographie enthält auch Episoden, die man in dieser Ausführlichkeit vielleicht nicht erwarten würde, die aber durch die Assoziation mit Ernst Jandls oft passiver Rolle ihre Berechtigung haben, wie etwa die Tricksereien um die windige Erich-Fried-Gesellschaft.
Hans Haider nimmt die Gattung der Biographie ernst. Nur sehr zaghaft deutet er eine eigene Interpretation von einzelnen Texten Jandls an. Er hält sich an das Objektivierbare, das Überprüfbare. Am Ende des Buchs steht Claudia Bauers gefeierte Jandl-Collage humanistää! am Volkstheater von Kay Voges.
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Dieser Tage wurde gemeldet: Kay Voges geht nach Köln.
Thomas Rothschild – 14. August 2023 ID 14334
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Ernst-Jandl-Biografie
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