Frühe Tode,
unsterbliche
Musik
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Bewertung:
Starb Keith Moon tatsächlich an einem Schnitzel und 35 Schlaftabletten? Ist Cass Elliot an einem Schinkensandwich erstickt? Und was ist die Wahrheit hinter all den Legenden, die sich um Jim Morrisons Tod ranken?
Mit solchen Gerüchten, die sich oft extrem hartnäckig halten, beginnen viele der insgesamt 30 kurzen Kapitel über eine Auswahl von Musiklegenden, die für immer verstummten, wie es im Untertitel von Schlussakkord heißt. In seinem Buchdebüt porträtiert Musiker und Publizist Ingo Scheel teils weltberühmte Rock-, Soul-, Pop- und Folk-Musiker:innen, die neben ihrer Beschäftigung einzig die Tatsache eint, dass ihnen kein langes Leben vergönnt war.
Viele der Porträtierten starben in ihren Zwanzigern; nicht wenige wurden um einiges älter, wie etwa Bob Marley (36) oder Whitney Houston (48). Von Bobby Fuller bis Christina Grimmie deckt Scheel ungefähr eine Zeitspanne von sechzig Jahren ab, ohne dabei einer Chronologie zu folgen. Auch die einzelnen Lebensgeschichten sind oft achronologisch erzählt. Doch – und das ist gewissermaßen der Clou dieser Publikation – die Stories sind lose durch geographische oder biographische Details miteinander verknüpft, und sei es nur, dass Person A im selben Hotel abstieg wie Person B, die im folgenden Kapitel behandelt wird.
Nun kann man sich fragen: Gibt es nicht schon mehr als genug Veröffentlichungen zum Thema „Club 27“, also zur berühmten Riege von Musiker:innen, die mit 27 Jahren das Zeitliche segneten? Über Morrison, Joplin, Jones, Cobain und Winehouse scheint schon alles gesagt worden zu sein. Sie alle tauchen auch in Scheels Buch auf. Und trotzdem liest man die im Schnitt sechs Seiten langen Kapitel begierig, als kenne man nicht längst jedes Detail ihres Absturzes in die Drogensucht, oder ihres Zusammenbruchs im Spotlight der Konzertbühnen der Welt. Death sells. I swear that I don’t have a gun.
Es geht Ingo Scheel auch keineswegs nur um den Club 27 und andere Biografien der Selbstzerstörung. Es geht ihm auch um Musiker wie Otis Redding, den ein Flugzeugabsturz jäh aus dem Leben riss, oder Marvin Gaye, dessen Tod durch die Hand seines Vaters tragische Berühmtheit erlangte. Was aber hält die Kapitel zusammen? Was hat uns der Autor Neues über die vielen jung verstorbenen Künstler:innen zu sagen? Der Pressetext erwähnt eine medizinische Studie, der zufolge Popstars „früher sterben als Kreti und Plethi“. Das ist spannend, doch Scheel greift diesen Faden in seinem Buch gar nicht auf und fragt nicht, warum es sich so verhält.
Doch vielleicht ist es müßig, nach einem roten Faden zu suchen. Schauen wir lieber darauf, was das Buch bietet. Laut Klappentext soll es „ein Mix aus True Crime, Pop Art und Literatur“ sein. Tatsächlich wird hier wie bei klug gemachter Pop Art auf intelligente Art und Weise ein, sagen wir, etwas mainstreamiges Interesse an Popkultur angesprochen. Und wie bei guten True-Crime-Formaten benutzt Scheel hin und wieder reißerische Teaser, ohne allerdings die tragischen Held:innen seiner Geschichten vorzuführen. (Das Kapitel über GG Allin mal ausgenommen. Andererseits hat dieser Musiker selbst so ziemlich alles dafür getan, sich einen schlechten Ruf zu erwerben.)
Auf jeder Seite des Buchs schimmern Scheels unbedingte Liebe zur Musik und seine (musik-)journalistische Expertise durch. Beides merkt man auch an der Detailverliebtheit, wenn der 1964 geborene Punkmusiker etwa Marke und Modell der Gitarren nennt, die das Glück hatten, vom jungen Jimi Hendrix bespielt zu werden. Als routinierter Journalist und Autor kann Scheel sein Expertenwissen sprachlich aber so verpacken, dass es einen als Lai:in in Sachen Rockgeschichte nicht übermäßig frustriert. Illustriert werden die Mini-Biografien übrigens von Oliver Schmitt, der mit grober Strichführung das Wesen der Künstler:innen einzufangen versucht.
Spaß macht es auch, unbekannte früh verstorbene Musiker:innen neu oder wiederzuentdecken und eigene Wissenslücken zu schließen. Wer kennt heutzutage noch US-Soulsinger Darrell Banks und seinen Hit Open the Door to Your Heart aus dem Jahr 1966? Auch die australische Sängerin Cathy Wayne oder Mal Evans, seines Zeichens Beatles-Roadie und -chronist sowie „Aushilfsmusiker“, sind Persönlichkeiten der Rockgeschichte, die zu Unrecht in der Versenkung verschwunden sind.
Am Ende stellt sich die Frage, warum es nicht mehr persönliche Anekdoten wie im Vorwort oder im letzten Kapitel gibt. Wie Scheel davon erzählt, wie er als Jugendlicher den Tod John Lennons erlebte, oder wie er – viele Jahre später – Scott Weiland von den Stone Temple Pilots in Köln interviewte, das ist berührend, darin liegt wirklich eine Stärke des Buchs. Davon hätte es also ruhig mehr geben dürfen.
Immerhin dürfen uns wohl auf ein Sequel dieses Erstlingswerks freuen, so deutet es der Autor am Schluss immerhin an. Auch wenn Schlussakkord keinen völlig neuen Blickwinkel auf Musiker:innen eröffnet, die viel zu früh von uns gegangen sind – gute Unterhaltung ist das Buch allemal.
Jo Ojan - 7. August 2024 ID 14864
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Schlussakkord von Ingo Scheel
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