Wenn Urängste
real werden
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Bewertung:
„Für ES gibt es keinen triftigen Grund. ES hat mit Henning nichts zu tun. Außer, dass es ihn bewohnt. Ein Tier, ein Parasit, ein Alien, das demnächst seine Bauchdecke durchstoßen wird. In früheren Zeiten hätte man vielleicht von einem Dämon gesprochen; vielleicht hätte man Henning exorziert.“ (Juli Zeh, Neujahr, S. 40)
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Henning, der Protagonist in Juli Zehs jüngsten Roman Neujahr, leidet seit längerem unter einer Panikstörung, die er ES nennt. Die diffuse Angst geht einher mit plötzlich auftretender, großer Unruhe. Ärzte und Therapeuten können keine Ursache erkennen. Um auf andere Gedanken zu kommen reist Henning mit seiner Frau Theresa, seinem vierjährigen Sohn Jonas und der zweijährigen Tochter Bibbi über Weihnachten und Silvester auf die Kanarische Insel Lanzarote.
Nach dem dystopischen Zukunftsroman Leere Herzen widmet sich die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin und Juristin den Themenfeldern Eltern-Kind-Verantwortung, der Überforderung von Eltern und der möglichen Bewältigung früher Traumata. In Neujahr arbeitet die gebürtige Bonnerin mit mehreren Zeitebenen. Die Autorin beschreibt insbesondere die Anfälle, die Henning auch auf Lanzarote verfolgen, detailgenau und bildhaft. Der Protagonist versucht mit ihnen umzugehen und sie vor seiner Frau und den Kindern weitestgehend zu verheimlichen:
„Es beginnt mit einem Brennen im Zwerchfell, wie eine Mischung aus Lampenfieber und Flugangst. Sein Herz fängt an zu rasen, dann zu stolpern. Hennings Körper und Geist geraten außer Kontrolle. Manchmal weckt ES ihn mitten in der Nacht. Er fährt dann aus dem Schlaf und bekommt keine Luft, muss sofort auf die Toilette, will schreien oder den Kopf an die Wand schlagen und unterlässt es, um niemanden zu wecken.“ (S. 38)
Der verzweifelnde Familienvater setzt sich am Neujahrsmorgen mit einem Leihfahrrad auf Lanzarote von den Seinen ab. Über Serpentinen quält er sich von Playa Blanca radelnd den beschwerlichen Weg hinauf ins Vulkangebirge, ohne Wasser oder eine richtige Fahrradausrüstung mitgenommen zu haben. Das altbekannte Angstgefühl lässt nicht lange auf sich warten. Es gerät in Widerstreit mit seinem Ehrgeiz, die Berggipfel erklimmen zu wollen. Erschöpft oberhalb des Bergorts angelangt, scheint er auf die Hilfe anderer angewiesen. Er trifft auf eine Frau, die ihn in ihr Haus einlädt und kommt mit ihr ins Gespräch.
Bei einer Rundführung der Frau auf dem Gelände hat Henning mehrere Déjà-vus. Denn Haus und Umgebung kommen ihm bekannt vor. Er beginnt sich an einen Urlaub auf Lanzarote in seiner Kindheit zu erinnern. Er war damals etwa so alt wie Jonas und seine Schwester Luna war in Bibbis Alter. In einer Rückblende wird der damalige Urlaub aus der Kindersicht von Henning beschrieben. Er erinnert sich an ein schlimmes Ereignis auf Lanzarote, als seine Eltern ihn und seine kleine Schwester plötzlich über zwei Tage unangekündigt alleine ließen. Damals versuchte er, die Angst vor dem Alleinsein seiner kleinen Schwester gegenüber zu überspielen, indem er ein plötzliches Freiheitsgefühl hochleben ließ. Aber das funktioniert nur über kurze Zeit:
„Dann ist der Spaß vorbei. Das Lachen verschwindet und lässt sich nicht wieder holen, Henning versucht es noch ein, zwei Mal, aber es klingt angestrengt und falsch in seinen Ohren. Die plötzliche Stille ist wie ein Urteil. Wie wenn Mama schweigt statt zu schimpfen, und das Schweigen noch schlimmer ist. Sie liegen auf dem Bett, Henning hat die Augen geschlossen, damit er nicht sehen muss, was sie angerichtet haben. In Hennings Kopf sind keine richtigen Gedanken mehr. Alles geht in Bildern durcheinander.“ (S. 134f.)
Juli Zeh exerziert nun im beinahe noch schmerzhafteren zweiten Teil ihres Romans existentielle Urängste durch; was Kleinkindern passieren kann, wenn ihre Eltern plötzlich nicht mehr da und auch nicht mehr erreichbar sind. Der kleine Henning war damals noch lange nicht dafür bereit, die Verantwortung für die kleine Schwester an dem abgelegenen, fremdländischen Ort zu übernehmen. Trotzdem blieb ihm keine andere Wahl. Kindliche Phantasien überlagern sich:
„Henning redet mit dem Weltall. Er verspricht dem Weltall, alles zu tun, wenn es ihm nur die Eltern wiederbringt.“ (S. 135)
Stets wird deutlich, dass Kinder im Kleinkindalter ihre Eltern brauchen, um zu überleben. Die Autorin schafft in ihrem Roman auch durch die phantasiebegabten Überlegungen der nun kindlichen Perspektive eine stimmungsvoll-soghafte Spannung. Die aufeinander aufbauenden Zufälle und Déjà-vu-Erlebnisse muten jedoch teilweise etwas konstruiert an. Die Bedeutung des vergangenen Traumas für eine Einschätzung der Panikattacken in der unmittelbaren Gegenwart wird erkennbar. Der durchaus pointierte Show-Down lässt Fragen offen, wodurch das Erzählte umso intensiver nachwirkt.
Ansgar Skoda - 2. Januar 2019 ID 11125
Link zum Buch:
https://www.randomhouse.de/Buch/Neujahr/Juli-Zeh/Luchterhand-Literaturverlag/e529881.rhd
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