Ansteckende
Begeisterung
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Bewertung:
Es gibt wohl kaum etwas, was Devid Striesow, der Co-Autor des Buches Klassik drastisch, nicht spielen kann. Als Schauspieler ist er nicht mehr wegzudenken, ob als Tatort-Kommissar, Martin Luther, Schwartz (& Schwartz) im Fernsehen, als Hape Kerkeling im Kinohit Ich bin dann mal weg, oder auf der Theaterbühne. Da spielte er schon die fast unbekleidete Lady Macbeth (!), den George in Wer hat Angst vor Virginia Woolf und den Ivanov von Tschechow. In dem Buch gesteht er nun, dass er gerne eine Geige wäre. Aha!? Geige spielen kann er, aber Geige sein? Nun brachten er und der ebenfalls multitalentierte Tausendsassa Axel Ranisch ihre gemeinsame Leidenschaft für klassische Musik zu Papier mit dem Untertitel Lippenbekenntnisse zweier Musik-Nerds.
Während Striesow etwas zurückhaltender ist, erzählt Ranisch ausführlicher über sich. Er war ein „sensibles Kind“ und fühlte sich oft als Außenseiter. Obwohl er vorher Bestnoten hatte, scheiterte er auf dem Gymnasium, was ihm sehr zu schaffen machte. Die Pubertät bezeichnet er als Krieg, bei dem er versuchte, das Gefühlschaos und die Begierden unter Kontrolle zu halten.
„Ich stand der in mir aufkeimenden Sexualität lange feindselig gegenüber. Mir kam die Faszination am gleichen Geschlecht absolut widernatürlich, geradezu absurd vor. Ich kannte niemanden, der so war wie ich.“ (S. 67)
Sein frühes Interesse für klassische Musik half ihm über die schwierige Zeit des Erwachsenwerdens hinweg. So allein, wie er sich fühlte, war er gar nicht, denn etliche der von ihm bewunderten Komponisten waren ebenfalls homosexuell. Er brauchte bis zu seinem 23. Lebensjahr, bis er mit seinen Eltern über seine Veranlagung sprechen konnte und stellte verdutzt fest, dass sie ihn liebten. Ob er nun schwul war, übergewichtig oder auch sonst sehr eigen. Heute ist Ranisch ein renommierter Regisseur inklusive Opern, Grimme-Preisträger für die Regie bei Familie Lotzmann auf den Barrikaden, und er ging eine eingetragene Partnerschaft mit seinem Freund Paul ein.
Natürlich hatte auch Striesow, nach aktueller Zählung fünffacher Vater, gegen jugendliche Unsicherheiten anzukämpfen. Bei seinem Jugendschwarm Anja verschlug es ihm die Sprache, passiert also auch Menschen, die später als sehr versatil gelten. Das Schlimmste war aber wohl eine kurze Einlage auf der Mandoline in einer Aufführung von Mozarts Don Giovanni. Die beherrschte er durchaus, verpasste aber aufgrund von Lampenfieber seinen Einsatz. Das Orchester rettete ihn, und der damals Jugendliche wurde getröstet, das mit dem Lampenfieber würde immer schlimmer werden. Na, das sind ja gute Aussichten für einen künftigen Berufsschauspieler.
Ranisch und Striesow haben sich die klassische Musik auf ihre eigene Art zu eigen gemacht, als Rezipienten. Sie nehmen die Leserschaft mit in die Gefühle, Ideen und Geschichten, die bestimmte Stücke bei ihnen auslösen. Angereichert mit eigenen biografischen Einblicken, zusätzlich aber auch in die Biografien der Komponisten, bringen sie die klassischen Musikstücke auch Menschen näher, die sich noch nicht so eingehend damit befasst haben. Beethoven, der in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag feiert, wird ebenso geehrt, wie vor allem seine russischen Kollegen. Ranisch bedauert, dass Modest Mussorgski relativ jung gestorben ist. Er war ein begnadeter Komponist, aber hoffnungslos dem Alkohol verfallen. Die beiden Autoren bedauern auch den frühen Tod Franz Schuberts, der unentwegt komponiert hat und ein umfangreiches Werk zurückgelassen hat. Ranisch meint:
„Ich bin jetzt... 36. Das ist doch kein Alter... Mozart habe ich schon überlebt.. Ich würde gern noch ein bisschen bleiben. Ich habe noch so viel vor. Gerade mit der Musik. Ich will alles dafür tun, damit sie überlebt. Auch in meiner Generation.“ (S. 107)
Die beiden Musik-Nerds stammen aus stabilen Elternhäusern und wurden gefördert. Beide wurden in der ehemaligen DDR geboren und erlebten als junge Menschen die Wende. Ranisch besuchte häufig die Stiftung wannseeFORUM, in der Jugendliche politisch und kulturell gebildet werden. „Im Wannseeforum habe ich gelernt, dass es keine größere Stärke gibt, als zur eigenen Schwäche zu stehen“, erzählt Ranisch. Beiden hat die klassische Musik ganz offensichtlich geholfen, ihre Persönlichkeit zu bilden, denn als Regisseur und Schauspieler müssen sie der Befindlichkeit der Menschen und der Beschaffenheit der Welt immer wieder auf den Grund gehen. Natürlich gibt es auch die bildende Kunst und die Literatur, die einen ähnlichen Effekt haben, aber die Musik ist wohl doch ein wenig universeller.
Im letzten Drittel gibt es Transkripte von Podcasts mit dem selben Namen Klassik drastisch, die vom Deutschlandfunk mit den beiden aufgenommen wurden. Die haben den Vorteil, dass man die beschriebene Musik im Hintergrund auch hören kann. Im Buch werden Beethoven, Prokofjew, Schubert, Mahler, Schönberg, Brahms, Haydn, Bernstein, Tschaikowsky, Verdi, Bach und Mussorgsky aus der Serie vorgestellt. Im letzten Gespräch erklärt Striesow Folgendes:
„Aber wenn ich eine Geige wäre, ich würde mir wünschen, dass auf mir immer ein Konzert gespielt werden würde, und zwar das Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy op. 64 in e-Moll.“
Und Ranisch erwidert: „Das ist Sonntagsmusik. Das muss man in den Weltraum schicken! Dann denken alle, dass wir friedliche Absichten haben.“ (S. 207)
Die Bedeutung, die die Musik für Ranisch und Striesow hat, wird sehr eindeutig und klar, denn es gibt sie für jeden Gefühlszustand und wurde von begnadeten und hochsensiblen Komponisten erschaffen. Klassik drastisch erinnert noch einmal an deren Wertigkeit in einer Zeit, in der sie nicht oder nur in sehr eingeschränkter Form aufgeführt werden kann.
Helga Fitzner - 23. Juli 2020 ID 12367
Ullstein-Link zu
Klassik drastisch
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