Missverständnis
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Bewertung:
Ein Krimi aus Finnland ist in mancher Hinsicht etwas Besonderes. Das beginnt damit, dass die Vornamen der Handlungsträger uns so fremd sind, dass zumindest ich bei den meisten von ihnen das Geschlecht nicht zuordnen kann (z.B. Sennu, weiblich). Aber Finnougristikerin Gabriele Schrey-Vasara hat ganze Arbeit geleistet, und der Krimi um die Ermittlerin Maria Kallio bringt den Inhalt wie auch emotionale Details gut und gekonnt zur Geltung.
In der Nacht des letzten Schultages werden in ganz Finnland Zeugnisse gefeiert, und die Jugendlichen sind unterwegs. Ein siebzehnjähriger Iraker wird in dieser Nacht in der Nähe eines Minigolfplatzes brutal erschlagen. Bei der Obduktion stellt der Pathologe fest, dass es sich bei dem Opfer um einen Mädchenjungen handelt. Die beschnittenen Geschlechtsteile sind eindeutig weiblich, das Erscheinungsbild durch eine begonnene Hormontherapie ließ ihn jedoch jungenhaft wirken.
Hier könnten also gleich mehrere Mordmotive eine Rolle spielen, da wären Ausländerhass zu nennen oder die Ablehnung dieser besonderen Geschlechterrolle. Die Fahndung startet daher in sehr verschiedene Richtungen und legt dabei recht unterschiedliche Gesellschaftsbereiche offen. So erleben wir nicht nur einen spannenden Krimi, sondern schauen auch in soziale Bereiche, zu denen viele von uns kaum Zugang haben.
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Einanderverstehen ist das große Thema des Romans Im Nachhall des Todes - verstehen, was das Gegenüber signalisiert und verstehen, was in einem Menschen vorgeht, der sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen lässt. Hier hat Leena Lehtolainen eine Bresche geschlagen für Toleranz und Akzeptanz. Mit dem feinfühligen Tagebucheintrag des Mordopfers Sami Zabir eröffnet sie uns einen gefühlsmäßigen Zugang zu einem besonderen Menschen, der nicht an der Intoleranz, sondern an einem Missverständnis scheitert.
"Warum brauchen wir Schubladen, Fächer, Etiketten? Fühlen wir uns sicherer, wenn wir einen Menschen als Papierpuppe sehen und nicht als Prisma, das abhängig vom Licht immer etwas andere Farben reflektiert? Ich bekomme verschedene Etiketen aufgeklebt: Asylbewerber, Einwanderer, Eindringlin, Iraker, Neufinne. Manchen macht es Angst, dass sie nicht wissen, was ich bin – Junge, Mädchen, Mädchenjunge, nichts, jemand, für den es nch keine Bezeichnun gibt. Die werde ich mir eines Tages selbst ausdenken. Wen ich liebe, fragt mich jemand. Mutter. Lila, Karif. Auch meine anderen Familienmitglieder, die toten. Aber auf diese spezielle Art, hakt er nach, du weißt schon. Frauen oder Männer, Diverse, Katzen, Bäume? Was spielt das für eine Rolle? Wenn man sich nur traut zu lieben. Ich traue mich." (S. 393)
Es geht hier also um Menschlichkeit und nicht um die Darstellung von Brutalität zum Selbstzweck und den Kitzel an immer ausgeklügelteren Verbrechen. Und noch einen Aspekt möchte ich positiv vermerken:
Oft habe ich mir bei der Lektüre oder auch der Betrachtung von Fernsehkrimis eine weitgehend „normale“ Kommissarin gewünscht, eine Frau, mit der ich mich ein wenig identifizieren kann. Keine Charlotte Lindholm, die im TATORT zu Unbekannten im Dunkeln ins Bett kriecht in der Erwartung einer bizarren sexuellen Begegnung. Maria Kallio ist verheiratet, hat zwei Kinder und drei Katzen, ist aber für erotische Reize durchaus in einer sympathischen Art und Weise zugänglich. So sieht sie bei einem Tatverdächtigen seine, so vorhanden, männlichen Reize, ohne dabei aber gleich zur Tat zu schreiten. Also keine verklemmte Ermittlerin, sondern eine Frau mit offenen Augen, die sie im Raum Helsinki mittlerweile in ihrem fünfzehnten Fall offen hält und ich hoffe, es folgen noch weitere.
Ellen Norten - 6. Januar 2022 ID 13389
Rowohlt-Link zum Krimi
Im Nachhall des Todes
Post an Dr. Ellen Norten
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