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Roman

Späte Befreiung





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Was würde geschehen, wenn wir ein Leben lang unser Geschlecht verbergen müssten? Noch dazu in einer fremden Kultur? In dem Roman Die Wunder von Little No Horse begegnet man dem Priester Father Damien, der als Frau geboren wurde. Als Missionar ist es seine Aufgabe, die indianischen Heiden vom rechten Glauben zu überzeugen. Doch der Auftrag des Herrn misslingt. Am Ende ist es der Geistliche selbst, der eine neue Spiritualität erfährt.

Louise Erdrich genießt in den USA literarisches Renommee, hierzulande jedoch kennt man diese Autorin kaum. Erdrich wurde als Tochter eines Deutschen und einer indianischen Mutter geboren und verbrachte ihre Kindheit in einem Reservat. Man kann also behaupten, dass sie die Welt der amerikanischen Ureinwohner kennt. Insbesondere ist es das Weltgefühl der Ojibwe, das sie in beeindruckender Weise zum Leben erweckt und das so gar nicht zum westlichen Rationalismus passt. Zentral ist hierbei die Idee der Transformation der Seele durch die Natur. Und tatsächlich scheinen sich die Figuren dieses Romans in der magischen Realität des Reservates aufzulösen. Eine Selbstauflösung, die auch der Protagonist am Ende für sich ersehnt.

Die Handlung ist schnell erzählt: Der katholische Priester Damien Modeste tritt 1912 sein Amt als Seelsorger in einem Dorf des Ozhibi'iganan-Reservates an. Die einheimischen Ojibwe begegnen ihm mit Misstrauen. Damien lernt das harte Leben der Ureinwohner zu schätzen, das jenseits der Zivilisation stattfindet, ohne elektrisches Licht und befestigte Straßenzüge, in windigen Zelten und notdürftigen Provisorien. Allmählich gewinnt Damien das Vertrauen der Dorfbewohner, während er selbst immer tiefer in ihre Kultur eintaucht und sich in dieser magischen Welt zu verlieren scheint. Die Gemeinde, als deren treusorgender Geistlicher er bekannt ist, weiß indessen nichts vom Geheimnis des Priesters, das er all die Jahre mit penibler Umsicht hütet: Father Damien ist in Wahrheit die deutsche Ordensschwester Agnes DeWitt, die sich aufgrund einer lebensbedrohlichen Verwicklung gezwungen sah, die Identität des Priesters anzunehmen.

Auch wenn sich dieser Roman gelegentlich in idyllischen Naturszenen zu verlieren scheint, so ruht das Augenmerk der Erzählerin doch konsequent auf der missionarischen Aggressivität der katholischen Kirche, die bis tief in die letzten Winkel von North Dakota dringt und systematisch die Religion der Ureinwohner ausrottet. Doch in Gestalt von Father Damien bricht diese verordnete Mission gewissermaßen von innen her auf. Dabei wäre es zu einfach, die allmähliche Verfertigung seiner religiösen Befreiung allein auf die Tatsache zurückzuführen, dass er sein wahres Geschlecht verbirgt. Vielmehr kann man seine Entwicklung als die Geschichte einer Liberalisierung im fortgeschrittenen Alter lesen. Erst in späten Jahren gelingt es Damien, das strenge Korsett seines Kirchenglaubens abzustreifen.

Erdrich erzählt diese Geschichte in parallelen Schleifen: Einerseits werden die Ereignisse der Vergangenheit auktorial und chronologisch berichtet. Andererseits wird in der Rückschau, aus der Sicht eines dogmatischen Priesters, erzählt, der Father Damien aufsucht, da ihm zu Ohren gekommen war, dass eine Nonne in der Reservatskirche Wunder vollbracht habe. Der Geistliche, dessen Herz übervoll im Glauben ist, trifft in einer Schlüsselszene den fast Hundertjährigen. Doch statt ihn zu bestärken, erschüttert Damien den Glauben des Missionars fundamental. Es ist das Vermächtnis einer Frau, die sich von der Macht einer maskulinen Religion befreit. Kein schlechtes Ende für diesen faszinierenden Roman, der die Sprengkraft der Spiritualität in Zeiten der Krise erkundet.


Johannes Balle - 6. Dezember 2019
ID 11868
Link zum Roman, erschienen im https://www.aufbau-verlag.de


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