Gelebter
Feminismus
mit sozialem
Gewissen
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Der frühe Ruhm hatte seinen Preis: Obwohl Marie Jahoda (1907-2001) seither unzählige Arbeiten veröffentlicht hatte, bleibt ihr Name stets mit der Studie Die Arbeitslosen von Marienthal verknüpft, die sie zusammen mit Paul Lazarsfeld durchgeführt hat und die zu Recht als eine Pionierleistung der Sozialwissenschaften gilt. Das erzeugt ambivalente Gefühle. Einerseits ist es ehrenvoll, einen Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte gesetzt zu haben. Andererseits möchte man nicht schon zu Lebzeiten wie eine Verstorbene behandelt werden. Man will wahrgenommen werden mit den jeweils aktuellen Aktivitäten.
Marie Jahodas Biographie ist ein glänzendes Beispiel für eine Synthese von früher politischer Sozialisation im Rahmen der Arbeiterbewegung und überdurchschnittlicher wissenschaftlicher Neugier. Für die österreichische Sozialistin war eine Einheit von Engagement für die Benachteiligten und dem Objektivitätsanspruch der empirischen Forschung niemals ein Problem. Im Austromarxismus, mit dem sie aufgewachsen ist, waren die Ideen des Wissens und der Erziehung gleichermaßen verankert.
Zu den zahlreichen später berühmten Persönlichkeiten, die Marie Jahoda in ihrer Jugend kennengelernt hat, gehörte Karl Popper. Mit ihm, der damals ein überzeugter Sozialdemokrat war, arbeitete sie während ihres Studiums an der eben gegründeten Pädagogischen Akademie der Stadt Wien, die sich um eine Schulreform bemühte. Es ist nicht ohne Ironie, daß der junge "Karli" Popper seiner Kollegin einmal vorwarf, eine Rede, die sie zum Tag der Republik gehalten hatte, sei zu intellektuell, mit zu wenig Gefühl gewesen.
Auch Karl Kraus kannte Marie Jahoda persönlich. Er war durch Maries Onkel, der sein Verleger war, einer der "Familiengötter". Seine Lesungen haben die junge Marie Jahoda ebenso beeindruckt wie viele ihrer Zeitgenossen, obwohl sie sich politisch in eine andere Richtung bewegt hat als der scharfzüngige, extrem individualistische Kraus.
1934, als in Österreich der Austrofaschismus unter Dollfuß siegte, war Marie Jahoda 27 Jahre alt, alleinerziehende Mutter und Mitarbeiterin einer Forschungsstelle. Zugleich beteiligte sie sich an der illegalen Untergrundarbeit der verbotenen Sozialdemokratie. Wegen ihrer politischen Arbeit saß sie unter Schuschnigg acht Monate im Gefängnis. Sie hatte, alle Vorsichtsregeln der konspirativen Arbeit missachtend, nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 im Karl-Marx-Hof, dem berühmten Wiener Gemeindebau, mit einem Freund Zettel geklebt, auf denen stand: "Wir kommen wieder!" 1936 wurde sie wegen Hochverrats verurteilt. 1937 bot man ihr aufgrund öffentlicher Proteste die Entlassung aus der Haft an, wenn sie sofort das Land verlassen würde. Bald darauf marschierten die deutschen Truppen in Österreich ein. Die Inhaftierung im Austrofaschismus und die erzwungene Emigration retteten der Jüdin und kämpferischen Sozialistin paradoxerweise das Leben. Von England aus konnte sie dann auch anderen Menschen helfen, aus Österreich zu fliehen.
Während des Kriegs hatte Marie Jahoda einen Forschungsauftrag des britischen Informationsministeriums. Als das Ergebnis einer Untersuchung für die Veröffentlichung retuschiert werden sollte, kündigte ihre gesamte Gruppe, weil sie auf dem Unterschied zwischen Sozialwissenschaft und Propaganda beharrte. So eine Haltung war und ist nicht alltäglich. Nur selten kommen Ethik und wissenschaftliche Forschung derart zusammen. Für die sozialwissenschaftliche Arbeit formulierte Marie Jahoda drei ethische Grundsätze, an die sie sich selbst stets gehalten hat. Sie betreffen das Thema, das man sich zur Erforschung wählt, die Art, wie man mit den Menschen umgeht, die man untersucht – dass man sie nicht als Objekte, sondern als gleichberechtigte Partner betrachtet, und die Entscheidung, was man mit den Resultaten der Untersuchung macht.
Eine ganze Reihe von Marie Jahodas Arbeiten wurde nicht oder erst sehr verspätet veröffentlicht. Es war Marie Jahodas Prinzip, nichts zu veröffentlichen, was anderen Menschen schaden könnte. Sie stand bis zu ihrem Lebensende zu der Überzeugung, dass Sozialwissenschaftler Resultate ihrer Arbeit zurückzuhalten hätten, wenn diese den Untersuchten mehr Elend als Gutes bescherten. Als unter Idi Amin dreißigtausend Asiaten mit britischem Pass aus Uganda nach England flohen, erstellte Marie Jahoda mit ihren Studenten für das britische Innenministerium eine Untersuchung in den Flüchtlingslagern. Dabei stellte sich heraus, dass die Asiaten starke Vorurteile gegen die Afrikaner in Uganda hatten. Marie Jahoda verhinderte gegen den Widerstand von Studenten, die auf eine erste wissenschaftliche Publikation gehofft hatten, die Veröffentlichung des Berichts, weil es die Lage der Flüchtlinge, die es ohnedies schwer hatten, verschlimmert hätte, wenn bekannt geworden wäre, dass sie nicht nur Opfer von Rassenvorurteilen waren, sondern selbst auch solche hegten. Dass solche Überlegungen heute vielen absurd klingen, die hochtrabend von einer Verpflichtung gegenüber der Wissenschaft sprechen, zeugt von einem moralischen Verfall, der eine Frau wie Marie Jahoda gleichzeitig anachronistisch und vorbildlich erscheinen lässt.
In den Jahren des McCarthyismus lebte Marie Jahoda in den Vereinigten Staaten, wohin ihre gemeinsame Tochter mit Paul Lazarsfeld, noch als Kind, schon vor dem Krieg gezogen war. Marie Jahoda konnte mit Untersuchungen nachweisen, dass sich die Repressionen des McCarthyismus nicht nur auf die unmittelbaren Opfer, sondern auf die gesamte nordamerikanische Gesellschaft und Kultur auswirkten. An ihrer Bewunderung für die Lebenskraft der Vereinigten Staaten haben diese Erfahrungen mit dem "Wahnsinn McCarthys" nichts geändert.
Schon sehr früh hat sich Marie Jahoda nicht nur mit Fragen der Arbeit und der Arbeitslosigkeit, sondern auch mit Fragen der Erziehung und des Vorurteils beschäftigt. Sie war an dem Projekt von Adorno und Horkheimer beteiligt, aus dem unter anderem das berühmte Buch über den „autoritären Charakter“ hervorgegangen ist. In ihrer eigenen Forschung kam Marie Jahoda zu dem Schluss, dass das Vorurteil eine emotionale Reaktion auf das Andersartige aufgrund einer Unsicherheit über die eigene Identität sei.
In einem Aufsatz schreibt Marie Jahoda:
"Es ist stets wichtig, die Notwendigkeit nationaler Identitäten und die Unvermeidlichkeit von Nationalstaaten zu erkennen. Aber es ist noch wichtiger, den ideologischen Nationalismus mit aller Kraft zu bekämpfen."
Und sie bestimmt die nationale Identität als eines von vielen Elementen der komplexen Identität jedes Menschen. Dieses eine Element, schreibt sie, dringt in den Vordergrund, wenn radikale Umwälzungen in der Gesellschaft oder im Privatleben Unsicherheit erzeugen, Selbstzweifel aufwerfen und andere Elemente der persönlichen Identität untergraben. Mit dieser Beobachtung ließe sich das unübersehbare Aufleben nationalistischer Tendenzen in Deutschland und anderen Ländern heute erklären.
Seit ihrer Jugend hat Marie Jahoda immer wieder über Arbeitslosigkeit und ihre psychischen Auswirkungen geforscht und publiziert. Das Problem ist ja wieder hochaktuell. In seiner Substanz hat es sich seit den dreißiger Jahren trotz der großen Veränderungen, die stattgefunden haben, nach der Meinung, die Marie Jahoda noch kurz vor ihrem Tod äußerte, nicht verändert. Die psychologischen Bedingungen, das Gefühl von Arbeitslosen, überflüssig zu sein und nicht anerkannt zu werden, sind gleich geblieben.
Marie Jahoda war eine von mehreren Dutzend Wissenschaftlern und Künstlern, die Österreich und Deutschland wegen des Nationalsozialismus verlassen mussten und es im Ausland zu internationalem Ruhm gebracht haben. Ohne Zweifel sähe es in ihrer früheren Heimat heute anders aus, wenn man sich nach 1945 bemüht hätte, die Exilierten zurückzuholen. Es muss wohl für die Sozialdemokratin Marie Jahoda eine besondere Kränkung gewesen sein, als die SPÖ spät, sehr spät eingestand, dass sie stattdessen massenhaft ehemalige Nationalsozialisten aufgenommen und gefördert hat. Zu Recht wurden Institutionen der Frauenforschung in Österreich und Deutschland nach Marie Jahoda benannt. Zu ihrer Zeit sprach man nicht von Feminismus, aber sie war eine wichtige Vorkämpferin für die Rechte der Frauen. Freilich ging es ihr nicht um die Teilhabe einiger weniger Frauen an Privilegien in einer prinzipiell ungerechten Gesellschaft der Privilegierten und der Unterprivilegierten, sondern um die Abschaffung von Privilegien.
Wegen ihres zweiten Mannes, einem schon vor längerer Zeit verstorbenen Labour-Abgeordneten, zog Marie Jahoda, die immer noch ein wunderbares Deutsch sprach, obwohl sie Englisch, trotz ihrem Akzent, als ihre "erste Sprache" bezeichnete, von den USA, wo sie sich eigentlich wohlgefühlt hatte, wieder nach England. Sie lebte in einem idyllischen Dorf in Sussex und arbeitete, nach einem Schlaganfall erblindet, bis zuletzt wissenschaftlich. Worunter sie am meisten litt, war die Tatsache, dass sie ihre Manuskripte nicht mehr in Handschrift abfassen konnte.
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Jetzt ist in der Edition Konturen ein repräsentativer Band mit Aufsätzen und Briefen Marie Jahodas [unter dem Buchtitel Rekonstruktionen meiner Leben] erschienen, eingerahmt von drei Beiträgen und biographischen Daten. Pflichtlektüre für alle, die denken, der Kampf für die Rechte der Frauen sei eine Erfindung von Alice Schwarzer und lasse sich, ohne Schaden, vom Kampf für die Rechte aller Unterprivilegierter trennen.
Thomas Rothschild – 6. Mai 2024 ID 14734
Edition Konturen-Link zu
Marie Jahoda
Post an Dr. Thomas Rothschild
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