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Im Gewölbe

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Kurz vor Weihnachten veröffentlichte der Schriftsteller-Grandseigneur Martin Walser mit Spätdienst einen über 200seitigen Band mit Fragmenten, Anekdoten und gefühliger Poesie. Der 91jährige Autor ergeht sich wortreich in sogenannten „Lebensstenogrammen“, so der Buchdeckel. In einem Gewimmel trifft eher schlicht Gereimtes auf alltägliche Lebensweisheiten oder poetische Aphorismen. Meist vier bis sechs Mehrzeiler füllen eine Seite. Inhaltlich kreisen die gedankenvollen Verse überwiegend um Naturphänomene wie den Regen, die Liebe oder die eigene Vergänglichkeit und den Tod. Der Schriftsteller zelebriert auch ein bisschen eine gewisse Egozentrik. So kommt in Walsers Selbstoffenbarungen weit über 1.000 Mal das vielleicht älteste Wort der Menschheit vor: „ich“. Walsers Verse sind dabei oft durchdrungen von Sentimentalität und Zärtlichkeit:


„Wär ich, wie ich bin, künstlich, /
unzerstörbar, wüsste nur, was /
weiterführt, ohne zu wissen, wohin, /
hätt ich doch keine Ahnung, was /
fallende Blätter bedeuten, was /
Zeilen, die enden in einem Punkt.“

(Martin Walser, Spätdienst, S. 168)


In seinen Versen beobachtet Walser das eigene Sein im Zusammenwirken mit der Natur und der Gesellschaft, dabei widmet er sich auch modernen Phänomenen wie s.o. der Künstlichen Intelligenz. Vieles wirkt trivial oder kitschig; anderes durchaus geistreich und poetisch:


„Es tanzen die Blätter im Wind, /
wissen nicht, dass sie am Fallen sind.“
(S. 207)


Provokant steht im Einband als Widmung zum Buch: „Für Gegner: Ein gefundenes Fressen | Für meine Leser: Vielleicht ein Ausflug ins Vertraute“. Walsers Lebens-Stenogramm hat tatsächlich bereits eine Debatte unter namhaften Literaturkritikern in Deutschland ausgelöst. Obwohl das Werk insgesamt recht wenig politisch ist, provozierte ein Gedicht, in dem das Wort „Auschwitz“ vorkommt, Kritik. Das für seinen Aphorismenband auf Seite 13 gekürzte und leicht bearbeitete Spottgedicht erschien bereits 1968 in Die Zeit unter dem Titel Allgemeine Schmerzensschleuder.

Wer die aktuelle Debatte verstehen möchte, muss wissen, dass sie auf eine vorhergehende Debatte aufbaut. Walser nahm Bezug auf Auschwitz 1998 in der Frankfurter Paulskirche anlässlich der Zuerkennung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. In seiner Paulskirchen-Rede thematisierte der am Bodensee geborene Autor damals die Erinnerung an den Holocaust. Er sprach von einer „Instrumentalisierung von Auschwitz“ als Einschüchterungsmittel.

Im Gedicht von 1968 nennt Walser Auschwitz in einem Atemzug aneinandergereiht mit Golgatha, Verdun und Hué. Jesu Kreuzigung auf Golgatha, die Schlacht von Verdun im Ersten Weltkrieg und der Kampf um die Stadt Hué in Vietnam werden so als tödliche Katastrophen neben Auschwitz gestellt. Das höhnische, polemische und satirische Gedicht verspottet dabei jedoch vor allem das unpolitische Feuilleton. Der Vorwurf an Walser, Auschwitz abermals zu relativieren und zu bagatellisieren, wird in Spätdienst wieder herausgefordert.

Leider sind die anderen Gedichte meist weniger komplex, angriffslustig und frech. Immerhin bereichern minimalistische Rankenornamente oder fragile Arabesken von Walsers Tochter Alissa das Werk auf dem Umschlag und im Innenbereich. Dies erinnert neben den zahllosen lyrisch-literarischen Hinterlassenschaften und Alterswerken Walsers stets auch an seine fünf künstlerisch mehr oder minder prominente Kinder, zu denen auch die Schauspielerin Franziska Walser, die Dramatikerin Theresia Walser oder der Verleger Jakob Augstein zählen.



Ansgar Skoda - 4. Januar 2019
ID 11131
Link zum Buch Spätdienst von Martin Walser


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