Das geheime
Leben der
Alten
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Bewertung:
Sunset Hall ist das Anwesen der alt gewordenen Agnes, die dort nicht mehr alleine leben konnte und eigentlich in ein Pflegeheim gemusst hätte. Doch zusammen mit ihrer Schicksalsgenossin Lillith, mit der sie sich im Krankenhaus ein Zimmer geteilt hatte, gründete Agnes eine WG für alte Menschen in ihrem großen Haus. Sie wählten ihre Mitbewohner sehr gründlich aus, denn es ging darum, so lange selbstbestimmt zu leben, wie es möglich sein würde. So kam Winston dazu, der zwar auf den Rollstuhl angewiesen, aber bei klarem Verstand ist; Bernadette ist blind, hört aber wie ein Luchs; Edwina ist die Beweglichste von allen und macht noch jeden Tag Yoga; der Marschall kann gut mit dem Computer umgehen und bestellt alles Nötige per Internet. Deswegen waren sie lange nicht mehr im nahe gelegenen Dorf, dessen BewohnerInnen die Rentner-WG mit Misstrauen beäugen.
Die Krimikomödie Mord in Sunset Hall von Leonie Swann beginnt mit dem Tod von Lillith, die eines Tages mitten unter ihren geliebten Pflanzen mit einer Kugel im Kopf liegt. Bevor die Alten beraten können, was sie tun, klingelt ein Mann an der Tür, der ausgerechnet Reklame für das Seniorenheim Lindenhof macht. Nachdem der abgewimmelt ist, rufen die Bewohner die Polizei und bringen die beiden ermittelnden Polizisten zur Verzweiflung. Die Alten können die einfachsten Fragen nicht beantworten, Spuren und ein Motiv scheint es auch nicht zu geben, und Edwina bietet ihnen die Schildkröte Hettie als Vollmitglied der WG auch zum Verhör an. An diesem Tag ist eine neue Bewohnerin eingetroffen, Charlie, die auch noch ihren riesigen Wolfshund namens Brexit mitbringt. Die aufgescheuchte Gruppe beschwert sich zunächst. Sie hatten den Fernseher in den Keller verbannt, nachdem dort nur noch von Brexit berichtet wurde, und nun kommt Brexit in Gestalt eines Hundes ins Haus. Doch dieser ist ein derart liebenswertes Wesen, dass sie sich schnell mit ihm anfreunden. Bei Charlie sind sie sich noch nicht sicher, denn die verträgt Unmengen von Alkohol und hat Vorräte zum Rauchen dabei, keine Zigaretten, versteht sich.
Als in unmittelbarer Nachbarschaft ein weiterer Mord an einer alten Frau verübt wird, schließt sich die WG zusammen und ermittelt selber. Der Marschall ist beruflich vorgebildet, Agnes ebenfalls, und auch die restlichen Mitglieder kennen sich mit der einen oder anderen Seite des Gesetzes gut aus: „Bernadette erzählte von dem Drogenbaron, der panische Angst vor Pudeln hatte. Der Marschall gab erbauliche Anekdoten von seiner Anti-Terror-Zeit in der Wüste zum Besten, wo es von Skorpionen, Sonnenbränden an ungewöhnlichen Stellen und kulturellen Missverständnisses nur so gewimmelt hatte. Winston erzählte ihnen von einem Geheimcode, den er entwickelt hatte und der ganz und gar aus Schokoriegeln bestand. Edwina erklärte ihnen … wie man ein Messer am geschicktesten in seiner Unterwäsche versteckte.“ (S. 97).
Eines Nachts stellen sie einen Amateur-Einbrecher mit einem ganz netten Geschäftsmodell. Er hatte am Vortag ihren Treppenlift repariert, weil er als Elektriker aber so wenig verdient, bricht er danach bei alten Leuten ein und lässt einen Fünfziger oder Hunderter mitgehen und zwar so, dass die es gar nicht mitbekommen. Er heißt mit Spitznamen Sparrow und wird von der WG erst einmal richtig angeleitet, denn er verwischt nicht einmal seine Spuren. Der frisch angelernte Agent soll sich möglichst unauffällig im Dorf umhören und Informationen für sie sammeln: Es gilt der Geheimcode Schokoriegel, der ausnehmend gut funktioniert.
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Die deutsche Literaturwissenschaftlerin Leonie Swann war 2005 mit ihrem Krimi Glennkill erfolgreich, in dem ausgerechnet Schafe einen Mordfall lösen, denn sie haben einen hervorragenden Geruchssinn und können Stress und Angst bei Menschen riechen. Es folgten mehrere Krimis, in denen Tiere zur Lösung der Fälle beitrugen. Bei Mord in Sunset Hall sind es mit den Senioren und Seniorinnen auch die eher Unwahrscheinlichen, die man bei Mordfällen einsetzen würde. Trotz des geringen Ansehens, das alte Menschen in der Gesellschaft oft genießen, hat es die Rentner-Gang faustdick hinter den Ohren. Sie können die Polizei nicht einschalten, weil sonst... Na ja, es ist besser, wenn die nicht zu viel über Sunset Hall weiß.
Gefährlich wird es beim Umgang mit ihren Defiziten. Einer z.B. gesteht die fortschreitende Demenz den Mitbewohnern gegenüber nicht ein. Ein anderer hat Tinnitus und hört zwischendurch nicht alles. Könnte man nachholen, wenn es die anderen wüssten, doch da ist auch noch eine gehörige Portion Altersstarrsinn mit im Spiel. Es tauchen Kindheitstraumata auf und einige Monster aus der Vergangenheit, wo man sich doch mit dem aktuellen Monster, dem Mörder, auseinanderzusetzen hat. Aber es kommt auch zu wunderbaren Momenten. Als der junge Enkel vom Marschall einfach für die Ferien auf Sunset Hall geparkt wird, ist keiner begeistert, schon gar nicht der kleine Nathan. Agnes erkennt Gemeinsamkeiten zwischen Kindern und Alten, die beide nicht für voll genommen werden: „Auf einmal hatte Agnes das Gefühl, es nicht einfach mit irgendeinem Enkel zu tun zu haben, sondern mit 'jemandem', einer ganzen Person. In dem dunklen Strubbelkopf saß jemand, genau wie in ihrem weißbehaarten Kopf jemand saß.“ (S. 214).
Swann schildert eindringlich die Angst alter Menschen vor dem Seniorenheim: „Der Lindenhof mochte aussehen wie ein Paradies, aber er war kein Ort für Leute, die noch so etwas wie ein Innenleben besaßen. Niemand hier kümmerte sich um das Innen. Das Innen wurde eingestellt! Lillith hatte zweifellos recht gehabt...“ (S. 311) Und wir erfahren viel über die Alten und ihren allgemein menschlichen Drang nach Menschenwürde und Selbstbestimmung. Swann hat sich am Anfang viel Raum genommen, sie der Leserschaft näher zu bringen, sodass sie einem ans Herz wachsen. Um so mehr Anteil nimmt man, wenn es im Finale noch recht gefährlich wird und sich die Geschichte zu einem ausgewachsenen Krimi entwickelt. Swann betreibt keine Schwarz-Weiß-Malerei, wie das Gedächtnis der Alten spielt der Roman sich meistens in Grauzonen ab. Insgesamt ist ein sehr spezielles, humorvolles und am Ende spannendes Krimierlebnis dabei herausgekommen.
Helga Fitzner - 10. Juni 2020 ID 12290
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Mord in Sunset Hall
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