Gefangen in
jugendlicher
Unbedingtheit
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Bewertung:
„Es ist ein reiner, stinknormaler Cis-Moll-Akkord, mit dem das Stück beginnt. Aber schon im zweiten Takt, wenn die Hand vom cis aufs h herunterrutscht, während die Rechte noch immer ihrem Dreiklang nachhängt, verschiebt sich der Weltenpol um die entscheidenden Zentimeter, die einem unmissverständlich klarmachen, dass von nun an nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Man macht sich auf eine Reise, fraglich, ob man jemals wieder zur Unschuld des ersten Taktes zurückkehren wird, und je weiter man kommt, desto schwerer wiegt die Erkenntnis: nein.“ (Axel Ranisch, Nackt über Berlin, S. 242)
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Die Mondscheinsonate Ludwig van Beethovens spielt in Nackt über Berlin (2018) von Axel Ranisch ebenso eine Rolle wie Kompositionen von Tschaikowski oder Dvořák. Musik gilt als Sprache der Emotionen. Große Gefühle liegen bei der Lektüre dieses Romanes in der Luft - ein Durcheinander, eine Wirrnis und ein ganzes Gefühlsuniversum. Eine Intensivität erster Verliebtheit begründet mögliche Verirrungen. Der 17jährige übergewichtige und klassikbegeisterte Jannik ist verliebt in seinen besten Freund Tai. Im romanimmanent eingeflochtenen Soundcheck aus der Sicht Janniks kommt bald auch Adeles pathetischem Popsong „Someone like you“ eine tragende Rolle zu. Auch Frank Wedekinds Bühnenklassiker Frühlings Erwachen (1889) wird in die Handlung mit einbezogen.
Dabei bedient Axel Ranisch (bekannt u.a. auch als Tatort-Regisseur ) in seinem Debütroman neben den Genres Coming of Age, Coming Out und Liebesroman gleich auf unterhaltsame Weise auch noch die Gattungen Komödie, Krimi, und Thriller. Denn schon bald nimmt der Handlungsverlauf unvorhergesehene Wendungen. Tai liest – mit Jannik im Schlepptau – Jens Lamprecht, den sturzbetrunkenen Rektor ihrer Schule, von der Straße auf. Sie begleiten den stark alkoholisierten Pädagogen hin zu seinem Appartement und sperren ihn dort gleich mehrere Tage lang ein. Aus einem Scherz wird eine handfeste Entführung. Jannik lernt ganz neue Seiten Tais kennen. Er weiß nicht, wie er mit diesen umgehen soll. Bald nimmt Jens Lamprechts Perspektive neben Janniks Wahrnehmung zunehmend Raum ein. Die turbulenten Wendungen tragen zur Spannung bei, wirken gleichzeitig jedoch oft auch recht kurios. Da gibt es einen sturzbetrunkenen Schulleiter mit einem kompletten Filmriss, der das Auftauchen und Gespräch mit zweien seiner Schüler in der Nacht seiner Entführung völlig vergisst. Da leitet ein hyperintelligenter Schüler, der scheinbar alles und jeden filmen darf, eine ganze Schule in die Irre.
Auf den 370 Seiten des Romans wird recht ausgelassen geflucht, z.B.: „Dieser erbärmliche, hirnamputierte Haufen aus verpickelten, sonnenbebrillten Glatzen…“ (S. 331). Neben der Unbedingtheit jugendlichen Gefühlserlebens gewinnen Themen wie Gewaltmissbrauch, Freundschaften, Vertrauen, das Übernehmen von Verantwortung und der Rückhalt in der eigenen Familie an Bedeutung. Trotz kleiner Tippfehler (u.a. „Tais Lus[sic], Gott zu spielen“, S. 240, und „Ga[sic]luben Sie mir doch einfach…“, S. 324) überrascht der Roman mit Schrägheit und Witz und gewann jüngst auf der lit.COLOGNE den Debütpreis. Insbesondere eine Nachdenklichkeit und Läuterung von Jens Lamprecht gegen Ende vermag es, mit philosophischen Fragen für sich einzunehmen:
„Unbeschwertheit. Das war es. Kinder hatten sie, Erwachsenen ging sie verloren. Vielleicht lag in ihr der größte Unterschied zwischen den kleinen und den großen Menschen. Die einzigen Erwachsenen, die von ihr befallen werden konnten, waren Verliebte und Naive. Eigentlich hatte die Unbeschwertheit keinen guten Ruf. Niemand hätte sie als Talent oder Eigenschaft in eine Bewerbung geschrieben. Dabei war Unbeschwertheit die Hauptursache von Glück. Und als ob Glück eine Krankheit wäre, von der die meisten Menschen im Alter geheilt werden mussten, hatte Unbeschwertheit den üblen Beigeschmack von Dummheit und Ignoranz. Wer kein Päckchen auf seinem Rücken trug, war nicht ernst zu nehmen.“ (S. 342)
Ansgar Skoda - 17. Juli 2018 ID 10806
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