Aus den Archiven
der Kantstraße
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Michel Würthle, geboren 1943 als Spross aus der Dynastie der damals renommiertesten Kunstgalerie in der Wiener Innenstadt, gehörte in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu den Paradiesvögeln, die die Prominenz der Wiener Gruppe, der Aktionisten und der Stammkunden im Café Hawelka umschwirrten. Gleichzeitig mit einem Teil dieser Bohème zog Würthle nach Westberlin und gründete dort, wie Ossi und Ingrid Wiener das Exil und später das Axbax, die Paris Bar in der Kantstraße. Sie mauserte sich in kürzester Zeit zum erfolgreichsten Künstlerlokal neben Exil und Axbax und hat diese um Jahre, bis in die Gegenwart, wenn auch mit verändertem Charakter, überlebt. Mit einer attraktiven Speisekarte, der Atmosphäre eines französischen Bistros und dem Charme des meist anwesenden Patrons wurde sie zum Vorbild unzähliger Restaurants, nicht nur iin Berlin. Zu den erwähnten Qualitäten kamen die dicht gedrängten Bilder an den Wänden, die dem oft missbrauchten Begriff der Künstlerkneipe ihre Berechtigung verliehen.
Was wohl nicht alle Gäste wussten, war dies: Michel Würthle ist nicht nur sozusagen in einer Galerie aufgewachsen, er ist auch selbst studierter Grafiker. Jetzt hat er seine Schätze durchstöbert und im ehrgeizigen Steidl Verlag unter dem Titel Paris Bar Press Confidential sechs prachtvolle großformatige Bände in einem Schuber herausgebracht.
Die Anthologie raubt einem den Atem. Man fühlt sich beim Blättern wie in einem Objekt von Claes Oldenburg. Stile und Techniken stehen da neben einander, Porträts und Speisekarten, Fotos und implizite sowie explizite Widmungen für Robert Crumb bis Walter Pichler, Collagen und Rechnungen, Ankündigungen von Ausstellungen und Zeitungsausschnitte, Verbeugungen vor der Avantgarde und Trash. Gesichtsmasken machen sofort erkennbar, dass (einige, mehrere, viele?) Bilder nach dem Ausbruch der Coronakrise entstanden sind. Das Konvolut verzichtet auf Datierungen und Kommentare. Man muss sich hinein begeben wie in Dickens’ Old Curiosity Shop.
Wer künftig in die Paris Bar geht und das Glück hat, an einen der Tische begleitet zu werden, wird sich also nicht nur auf die beste Sauce béarnaise in der Stadt freuen, sondern auch in sechs Bänden blättern dürfen. Denk ich mir so.
Thomas Rothschild – 4. Januar 2022 ID 13387
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Paris Bar Press Confidential
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