(Zu)
viele
Zufälle
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Bewertung:
Da schreibt eine US-amerikanische Autorin ihren ersten Roman. Bereits nach dem dritten Kapitel hält sie einen Verlagsvertrag in den Händen. Der Thriller wird übersetzt und erscheint in 27 Ländern, so nun auch bei uns. Die Erfolgsgeschichte geht weiter. Längst sind die Filmrechte verkauft an die Produktionsfirma von Oscar-Preisträgerin Emma Stone, die auch die Hauptrolle in der geplanten HBO-Serie spielen wird.
Was, so frage ich mich, kann einen derartigen Erfolg bei einer Debütantin bedingen? Naheliegend wäre es, wenn dieser Krimi herausstechend in jeder Hinsicht wäre und in Idee, Umsetzung und Spannung jeden bisher dagewesenen Thriller übertrumpfen würde? Verfügt da eine Autorin also tatsächlich über faszinierendes Talent, oder sind es statt dessen nicht durchschaubare Beziehungen und funktioniert dann das Schneeballprinzip nach dem Motto: Wenn der Roman in den anderen Ländern erscheint, dann machen wir das auch und werben damit? Auf diese Werbung bin ich aufmerksam geworden und habe mir vorab die PDF-Druckfahne bestellt. Zugegeben mit gewisser Skepsis nähere ich mich dem Text.
Gleich die ersten Seiten sprechen eine extrem professionelle Sprache: Gegenwartsform und vergleichende Beschreibungen verleihen dem Text einen extrem modernen Anstrich. Alles, was in einer Schreibschule vermittelt werden könnte, ist hier versammelt. Das ist natürlich kein Verkaufsargument, macht den Roman aber auch nicht schlecht, und von Kunst braucht bei guter Unterhaltungsliteratur nicht die Rede sein. Tatsächlich, trotz meiner Vorbehalte, erweist sich der Roman als spannend. Sechs Mädchen werden ermordet vom Vater der Protagonistin, der seine Taten gesteht. Die damit verbundenen Empfindungen und psychischen Probleme schildert die Hauptperson Chloe in Ich-Form. Passend zu ihren psychologischen Ergüssen ist Chloe im Beruf Therapeutin. Wer meint, dass der Weg zum Berufspsychologen über eigene schwere Traumata führt, hat in diesem Fall recht. Chloe erscheint mir eigenartig, wenig nachvollziehbar, was aber auch an der typisch US-amerikanischen Perspektive auf Land und Leute liegen mag.
Nun kommt es zu zwei neuen Morden im Umfeld von Chloe, und dies genau 20 Jahre nach der ersten Mordserie. Da der Vater nach wie vor im Gefängnis sitzt, scheidet er als Täter aus. Doch schon kommt ein neuer Verdächtiger in Form von Chloes Verlobtem daher. Er hat Verbindungen zum Umfeld der damaligen Mordszenerie, rein zufällig? Weitere Delinquenten folgen, auch hier zunächst nach dem Zufallsprinzip. Nacheinander begegnen wir also verschiedenen Tatverdächtigen, die irgendwie immer mit der Protagonistin zu tun haben. Es häufen sich Zufälle, und hier wirkt der Thriller konstruiert. Es scheint, als arbeitete die Autorin Schritt für Schritt mögliche Täter ab. Wir als Leser werden an die Hand genommen und verdächtigen mit ihr – ein einfaches, gefälliges Lesen, nicht zu anstrengend und wer bei der spätabendlichen Lektüre im Bett einschläft findet auch am nächsten Tag mühelos wieder in den Ablauf hinein. Zum Schluss fällt der Täter wie eine reifer Apfel vom Baum, er ist der letzte übriggebliebene Verdächtige und wir wissen, anders als bei manchem Fernsehtatort, wer der Täter ist.
"Es war nicht das Töten, worauf es […ihm] ankam – das weiß ich jetzt, wo ich beobachte, wie er sich mit dem Oberkörper schwer auf meine Kücheninsel stützt, vertieft in Erinnerungen aus mehreren Jahrzehnten. Es war die Kontrolle. Und das verstehe ich sogar irgendwie. Ich verstehe es auf eine Weise, wie nur die eigene Familie es kann. Ich denke an meine ganzen Ängste, an den Kontrollverlust, den ich mir ständig einbilde. Zwei Hände, die sich um meinen Hals legen und zudrücken. Genau diese Kontrolle, die ich zu verlieren fürchte, riss […er] liebend gern an sich. Das Gefühl der Macht, die er über die Mädchen hatte, wenn sie erkannten, dass sie in Schwierigkeiten waren – ihr Blick, ihre bebenden Stimmen, wenn sie ihn anflehten: Alle, nur…Es war das Wissen, dass er und nur er allein die Macht über Leben und Tod hatte." (S. 424)
Ein spannender Thriller, der aber für mich nicht herausragend ist. An vielen Stellen fehlt mir die Lebendigkeit, die Überzeugungskraft der Charaktere. Warum dieses Buch einen solchen Hype auslöst, wird sich mir nicht erklären. Schade für die Autoren, die mindestens genau so gute Krimis schreiben, aber im allgemeinen Literaturbetrieb nicht wahrgenommen werden.
Ellen Norten - 16. Augut 2022 ID 13755
rororo-Link zum
Siebten Mädchen von Stacy Willingham
Post an Dr. Ellen Norten
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