"Autobiografie"
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Bewertung:
Stefan Aust wird oft als einer der bekanntesten Journalisten Deutschlands bezeichnet. So steht es auch im Klappentext seines jüngsten Buches Zeitreise. Im Untertitel wird dem Leser eine "Autobiografie" versprochen.
In einer Autobiografie beschreibt man im Allgemeinen die eigene Lebensgeschichte aus der Retrospektive. Im Gegensatz etwa zum Tagebuch, welches Ereignisse nahezu aktuell widerspiegelt. Ist Stefan Austs Zeitreise in diesem Sinn eine Autobiografie?
„Ich wollte eigentlich nicht meine Autobiographie schreiben, das war eigentlich nicht die Absicht", sagte Aust im Gespräch zur Buchvorstellung bei der Sendung DAS! des Norddeutschen Rundfunks. „Aber der Verlag wollte, dass das auf dem Cover draufsteht. Für mich sollte es nur heißen Zeitreise - Beobachtungen am Rande der Geschichte.“
Der Autor Aust lässt sich von einem Verlag den Titel vorschreiben, das soll man glauben? Einem Mann, der später auf über 600 Seiten von seiner Bedeutung und seiner Wirkmächtigkeit in der bundesdeutschen Medienlandschaft und Politik berichtet? Diese Geschichte klingt mehr nach einem typischen Aust. Stefan Aust hat es seit Beginn seiner Karriere bei der Zeitschrift konkret verstanden, Verwirrung zu stiften. Verwirrung, weil er sich nicht festlegen lassen wollte, oder konnte? konkret hat die Studentenbewegung und die außerparlamentarische Opposition, also die 68er proaktiv begleitet. Quasi als Chefredakteur von konkret war Stefan Aust Teil dieser Geschichte, aber auch wieder nicht, weil er bei Protesten und Demonstrationen nicht dabei war. Ulrike Meinhof, damals ebenso bei konkret, hat ihn deshalb als völlig unpolitisch bezeichnet. Unpolitisch in dem Sinn, dass er keine Stellung beziehen will.
Das Buch ist eine Sammlung von Geschichten, welche Stefan Aust während seiner journalistischen Tätigkeit begegnet sind. Der Autor plaudert sich durch 50 Jahre bundesdeutscher Geschichte. Der sachliche Berichtsstil lässt nicht das Gefühl einer Retrospektive aufkommen. Man wird das Gefühl nicht los, dass Aust die journalistischen Beiträge und filmischen Programme, welche er bei konkret, beim Spiegel, bei Spiegel TV und anderen Medien mit den jeweiligen Teams in 50 Jahren produziert hat, zwischen zwei Buchdeckel presst. Kein reflektiertes Erinnern also, sondern ein Zusammenstellen von vorhandenem Material. Auf Seite 464 beschreibt er diese Methode im Zusammenhang mit der Gründung eines neuen TV-Senders gemeinsam mit Alexander Kluge:
„Aber wir hatten Programmvorräte aus 10 Jahren Spiegel TV. Das war das wirkliche Investment in den Sender. Alles wurde noch einmal neu zusammengestellt, ausgeweitet und ergänzt.“
Die Identität zwischen Autor und Erzähler und Protagonisten, welche typisch ist für eine Autobiografie, geht bei diesem Zusammenstellen verloren. Der Mensch Aust, über den man was erfahren möchte, wird nicht sichtbar in den sachlichen Berichten über die RAF, die Spiegel-Affäre, den Agenten Maus, die NSU und vieles vieles mehr. Über sein privates Leben, sein privates Denken erfährt man wenig. Das Kennenlernen seiner Frau Katrin wird im gleichen sachlichen Stil geschildert wie ein Recherchereise nach Kaliningrad. Verblüfft reibt man sich nach 629 Seiten die Augen:
„Die Töchter Antonia und Emilie waren inzwischen erwachsen und selbstständig geworden, Antonia machte Filme wie Vater, und Emilie musste alles durchziehen, was ihr Vater nicht geschafft hatte, und das auch noch freiwillig: Pferde über hohe Hindernisse reiten, Jura studieren, und dann noch einen Flugschein machen. Katrin war inzwischen Beziehungstherapeutin…“
Wenig emphatisch wirkt das, nachdem Aust zuvor 600 Seiten scheinbar jedes Treffen mit Personen der Zeitgeschichte aus Politik, Wirtschaft und (Pferde-) Sport peinlich genau dokumentiert hat.
Stefan Aust bezeichnet sich selbst gern als überdurchschnittlich durchschnittlich. Damit hat er es zu einem der bekanntesten Journalisten Deutschlands gebracht. Wie er das im Detail angestellt hat, ist in seiner „Autobiografie“ dokumentiert, nicht mehr und nicht weniger.
Steffen Kühn - 21. Juni 2021 ID 12990
Piper-Link zur
Zeitreise von Stefan Aust
Post an Steffen Kühn
http://www.hofklang.de
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