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Die gebürtige Berlinerin Stella Kübler-Isaackson, geborene Goldschlag, gab es wirklich. In der Zeit des NS-Regimes verriet die Jüdin als Kollaborateurin die Verstecke hunderter Juden an die Gestapo. Über die gelernte Modezeichnerin und jüdische Gestapo-Agentin, die von 1922 bis 1994 lebte, gibt es zahlreiche Filme, Dokumentationen, Aufsätze oder Biographien. 2016 wurde sogar an der Neuköllner Oper ihre Geschichte als Musical erzählt.
Anfang d.J. entfachte nun der 34jährige Spiegel-Reporter Takis Würger mit seinem Roman Stella über eben jene Frau eine Diskussion in den literarischen Feuilletons. Ist Würgers literarische Denkmal ein Zuviel der "Ehre" für diese zweifelhafte und im Zweifelsfall gefährliche Person?
Vielleicht wird Stella in den Feuilletons aber auch deshalb so viel diskutiert, weil Würger das Hauptaugenmerk eben nicht auf einen möglichen Gewissenskonflikt der Titelfigur legt, die in einem großen Dilemma steckt. Stellas Schicksal wird ausschließlich aus der Sicht ihres naiven Gelegenheitsliebhabers betrachtet, dem jungen Friedrich. Stella verrät dem Ich-Erzähler wenig über sich und behauptet anfangs sogar, ausgerechnet „Kristin“ zu heißen. Zu Beginn erzählt der Roman sowieso erst einmal die Vorgeschichte Friedrichs, die recht klischeehaft und unglaubwürdig eine von Wohlstand und enormer Brutalität geprägte Kindheit schildert. Warum der farbenblinde Sohn eines wohlhabenden Schweizer Samthändlers dann als junger Erwachsener ausgerechnet in Zeiten des Krieges um 1942 eine Kunstlehre in Berlin beginnt, wird nicht deutlich.
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Die Idee ist eigentlich interessant, neben die historisch überlieferten Verbrechen in der NS-Zeit auch die Themen zu stellen, die die Menschen in dieser Zeit privat beschäftigt haben könnten, also Alltäglichkeiten und auch Dummheiten. Würger stellt betont nüchtern wiedergegebene Daten und historische Fakten wie die Gebote der Stunde des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels einen wie künstlich abgekoppelt wirkenden Ich-Erzähler gegenüber, der im Berliner Grand Hotel müßig in den Tag hinein lebt. Friedrich klaut spontan nachts mit Stella während eines Fliegerangriffs aus einer Boutique ein Kostüm für die neue Freundin und geht anschließend mit ihr im Landwehrkanal baden. Er malt Äpfel, schwelgt mit ihr gemeinsam in sinnlichen Genüssen, schlürft Champagner und Austern, genießt Kutschfahrten und ignoriert weitestgehend den Alltag. Die unglaubliche Naivität der Hauptfigur nervt alsbald. Es ist höchst fragwürdig, wie diese Figur ihre Art der oberflächlichen Lebensführung im Berlin zu dieser Zeit durchhalten kann. Auch Stella lenkt sich durch das Lesen und neckische Forderungen an ihren jungen Bettgespielen vom gefährlichen Alltag ab:
„»Schreibst du mir auch mal einen Liebesbrief?«, fragte sie. »Ist das nicht kindisch?« »Nein.« »Aber das ist doch ein Roman und kein Liebesbrief.« Sie blätterte und sagte, ohne mich anzuschauen: »Ist nicht jeder Roman ein Liebesbrief?« »Ich kann nicht so gut mit Worten«, sagte ich. »Aber du schreibst irgendwann ein Buch für mich?«, fragte sie. Ich schwieg." (S. 99)
Akribisch gräbt Würger noch weitere Gestalten der NS-Zeit aus. Auf einer Party im Milieu der Nationalsozialisten begegnen Friedrich und Stella ausgerechnet dem Schriftsteller Ernst Hiemer, der in seinem Kinderbuch Der Giftpilz (1938) gegen Juden hetzt und natürlich, auf Wunsch Stellas, auswendig das Vorwort daherbeten kann. Es geht, wie sollte es anders sein, um den Teufel in Menschengestalt. Auch eine weitere auftauchende Figur, den Berliner Meister im Weltergewicht Noah, gab es real. Friedrich lernt ihn im Roman in einer Kneipe kennen, just als ein anderer Mann ebendort Stella anbaggert. Noah schlägt für seine neue Bekanntschaft Friedrich diesen Konkurrenten um Stella k.o. (S. 148 ff.)
Hier erinnert Würger an den Holocaust-Überlebenden Noah Klieger, der sich im KZ als Boxer ausgab, um für Wettkämpfe eingeplant zu werden und zu überleben. Dann ist da noch die intensive Männerfreundschaft Friedrichs mit Tristan von Appen, dem SS-Obersturmbannführer („... ist einfach die schönste Uniform“, S. 101). Natürlich ist auch Tristan Bonvivant und liebt französische Delikatessen. Trotzdem fragt man sich bei ihm, warum er die Nähe zum Schöngeist Friedrich sucht. Insbesondere Tristans Haltungen zum Krieg und zu Stella erscheinen widersprüchlich und unglaubwürdig.
Stella selbst bleibt über den Romanverlauf hinweg recht undurchschaubar, auch nachdem sie wegen ihrer jüdischen Identität gefoltert wurde und Friedrich ihre eigentliche Identität zu erkennen gab. Die Bettdialoge zwischen ihr als erfahrene und fordernde Liebhaberin und dem jungen, unerfahrenen Friedrich erinnern ein bisschen an jene zwischen Hanna Schmitz und Michael Berg in Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995). Insgesamt sind jedoch alle Figuren recht eindimensional gezeichnet, und auch die Sprache wirkt recht reizarm, flach und schematisch aneinanderreihend. Viele abschweifende Beschreibungen, überflüssige Beobachtungen und eingeflochtene kitschige Briefe erschweren den Lesefluss. Auch abseits moralischer Kategorien von Schuld und Verantwortung hätte es dem Werk insgesamt gut getan, wenn die Figuren eingehender beleuchtet und ihre Gestaltung insgesamt vertieft worden wäre. Stella plätschert einfach etwas zu sehr dahin, ohne sich den Fragen zu stellen, die eigentlich von einem solchen Thema aufgeworfen werden.
Ansgar Skoda - 19. März 2019 ID 11287
Link zum Roman
Stella von Takis Würger
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