Blick hinter
die Kulissen
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Bewertung:
Der Titel könnte nicht besser gewählt sein. Selbst ich als „Ballettmuffel“ sehe die Ballerinen aus Tschaikowskis Schwanensee geradezu schwerelos über die Bühne gleiten, doch die Verbindung zum Tod zerreißt den überwältigenden Eindruck, zeigt, dass dieses Balletterlebnis einen hohen, wenn nicht zu hohen Preis hat.
Miřenka Čechová besuchte das Konservatorium in Prag. Seit ihrem zehnten Lebensjahr lebte sie dort im Internat, fernab von ihrer Familie. Dabei spielte die Schulbildung nur die zweite Geige in ihrem Leben, die erste war und blieb der Tanz – Tanz in all seinen Formen, stundenlang gepaart mit Drill und endloser Disziplin bis zur Erschöpfung. Nur so könnte es gelingen Ballerina oder gar Primaballerina zu werden. Wir tauchen ein in die Welt der Autorin, die diese Tortour hinter sich brachte, die dem Unterricht standhielt und die das hochgesteckte Ziel fast erreichte.
Ballett, das ist nicht allein Tanz, da gilt es stets Haltung zu bewahren, die Haare streng zum Knoten gebunden, ein strahlend schönes Gesicht zu zeigen und das Gewicht auf ein Minimalniveau zu drücken. So stimmt die Optik, und der Tanzpartner kann die Ballerina nahezu mühelos stämmen. Die Ballerina wirkt perfekt, zumindest nach außen hin erinnert sich die Autorin:
“Oh danke, Schmerz, dass ich dich haben kann, oh danke blutig geriebene Zehenspitzen, oh danke gigantischer Hunger, dass du mir zu erkennen gibst, wer ich bin! Und je tiefer du dich verbeugst, desto besser ist der Eindruck, den du hinterlässt. Du leckst den Boden, den Kopf fiebrig nach unten gebeugt, dein Blick ist leer, das ist die ergebene Traurigkeit eines Infanteristen, soldatischer Volleinsatz, die Ader auf der Stirn schwillt an, und du bist bereit, dich zur Gänze zu opfern; du hast doch das Privilegium bekommen! Auf deinen Platz warten zehn andere.” (S. 99)
Freizeit gibt es so gut wie gar nicht. Ständig wird gestreckt und gebogen, der Spann wird mit Gewalt nach unten gedrückt, das gestreckte Bein nach hinten hochgezogen oder nach vorn in der Waagerechten und noch höher überdehnt. Der Spagat wird zur Selbstverständlichkeit, während das Essen endnormalisiert wird, denn es gilt das Untergewicht zu halten. Da muss auch schon mal der Finger in den Hals gesteckt werden. Dem gegenüber steht der Traum von der großen Bühne, vom begeisterten Publikum und dem Sieg, wenn die Primaballerina über die Bühne gleitet.
Viele der Mitstreiterinnen von Miřenka Čechová blieben auf der Strecke, wurden von der Schule verwiesen, einige wegen fehlender Demut, doch meist wegen mangelnder Leistung. Von heute auf Morgen standen sie vor dem nichts, entwurzelt aus ihrer Umgebung, manche schlitterten direkt in eine Drogenkarriere hinein. Die dramatischen Vorgänge während ihrer Ausbildung hat die Autorin mit ihren originalen Tagebucheinträgen dokumentiert. Das Privatleben auf ein Minimum reduziert, das Weihnachtsfest bei den Eltern von der Essproblematik überschattet, und die ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht sind immer von der strengen Ausbildung mitbestimmt.
Wir lernen die Autorin aus sehr persönlicher Sicht kennen, können ihr besonderes Leben intensiv und erschreckend miterleben. Die Ballerina als Sklavin ihrer Kunst ihre Reduktion auf eine Fassade, die kaum Platz für ein „dahinter“ lässt.
Der Text von Miřenka Čechová reicht weiter. Viele Dinge, die wir als Zuschauer fasziniert verfolgen, haben ihren Preis, machen den Akteur zum Leidtragenden seiner Darbietung, verschaffen ihm langfristige Behinderungen, wenn nicht gar einen vorzeitigen Tod. Die Schlangenmenschen im Zirkus, Barren- oder Schwebebalkenturner im Sport, es gibt viele solcher Disziplinen, die mindestens auf Kosten der Gesundheit gehen, meist aber noch viel weiter reichen. Und ein Kind wird die Tragweite einer Entscheidung, das Angebot vielleicht einmal Primaballerina oder auf anderem Weg berühmt zu werden, nicht einschätzen können. Mit Tote Schwäne tanzen nicht ist Miřenka Čechová ein eindringliches und unbedingt lesenswertes Dokument gelungen.
Ellen Norten – 24. April 2025 ID 15239
Verlagslink zum Roman Tote Schwäne tanzen nicht
Post an Dr. Ellen Norten
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