Perspektivwechsel
Zwei erfrischende Abrisse über die deutsche Geschichte
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Bewertung:
Eine feine Idee war es, die zwei voneinander unabhängigen Bücher The Holy Roman Empire. A very short Introduction von 2018 und Histoire de l’Allemagne. 1806 á nos jours von 2014 in einem Band zusammenzufassen. Eine noch bessere war es, die beiden als Wendebuch zu verbinden, was jedem Werk einen eigenen Auftritt auf einem der Buchdeckel ermöglicht und so deren Eigenständigkeit unterstreicht. Denn sie wurden nicht gemeinsam oder nach Absprache verfasst, sondern stellen zwei unterschiedliche Betrachtungen der deutschen Geschichte von außen dar, einmal aus französischer und einmal aus britischer Perspektive. Das Buch lässt sich von beiden Seiten beginnen, es hat keine Rückseite und die beiden Teile treffen sich in der Mitte, wo man das Buch – wie der Name sagt – wenden muss, um weiterzulesen.
Die ganze deutsche Geschichte in einem 300-Seiten-Buch bedeutet: Es liest sich flott, hält sich nicht mit Detailfragen auf und ist für Leser, die sich rasch einen Überblick verschaffen und dabei gut unterhalten werden wollen. Genau das bekommt man mit Unsere Geschichte vom Theiss Verlag. Unsere Geschichte – ein Titel, der einer gewissen Ironie nicht entbehrt, sind die beiden Lizenzbücher doch Übersetzungen. Obwohl es zwei Ausländer geschrieben haben, ist es für inländische Leser doch genau das: die Geschichte unserer Vorfahren. Und weiter gefasst ist es auch ein Teil der Europäischen Geschichte, die durch Grenzverschiebungen und territoriale Zugehörigkeit von Regionen mit eigener kultureller Identität zeigt, dass es unzureichend ist, nur nationale Identitäten anzunehmen. Kurz: Die Geschichte Mitteleuropas – und das ist die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches, die der erste Teil behandelt, definitiv – ist Teil der Identität eines jeden Europäers.
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In den tausend Jahren seines offiziellen Bestehens ist naturgemäß viel passiert. Machtverhältnisse haben sich verschoben, Grenzen geändert. Aber immer waren die Beziehungen zu den Nachbarn und nach Übersee rege und bereichernd. Joachim Whaley, Professor für Deutsche Geschichte und Kultur an der Universität Cambridge, erzählt äußerst unterhaltsam das Wesentliche aus der reichen Historie dieses Vielvölkerstaates im Herzen Europas, der in seiner größten Ausdehnung von der Nordsee bis Venedig und Florenz reichte. Whaleys mit Fakten gespickter Stil wird nie langweilig und gibt spannende Einblicke in die Hintergründe der einen oder anderen politischen Entwicklung, die im allgemeinen Gedächtnis noch nicht verankert ist. Das ist spannend und erweitert den Blick auf die vielseitigen Wirkungskreise, die einzelne Begebenheiten nach sich zogen. Seine Motivation über „das Reich“ zu schreiben, liegt, wie er in einem Interview erzählte, darin begründet, dass man die positiven Urteile über diesen Megastaat fast vergessen hat. Das Urteil, das Heilige Römische Reich sei ja weder heilig, noch römisch, noch ein Reich gewesen, ist hingegen (auch in Historikerkreisen) sehr geläufig. Ein Parforceritt durch mehrere Epochen und tausend Jahre Geschichte vollführt Whaley auf diesen 134 Seiten, in denen er alle wesentlichen Ereignisse zusammenfasst und miteinander in Verbindung bringt. Wie im Rausch folgt man dem Lauf der Ereignisse und erwacht erst in der Mitte des Buches beim Kartenmaterial. Dieser (rote) Teil endet mit der formalen Auflösung des Reiches 1806 durch niemand geringeren als Napoleon Bonaparte und leitet über zu Johann Chapoutots Ausführungen der Ereignisse bis in die Gegenwart. Spätestens beim Vornamen des zweiten Autors muss man unwillkürlich schmunzeln. Dass sich ausgerechnet zwei nicht-deutsche Professoren mit den Namen Johann und Joachim der deutschen Geschichte annehmen, klingt nicht nach Zufall.
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Ganz als Anhänger der „Grande Nation“ widmet sich Johann Chapoutot, Professor an der Universität Paris-Sorbonne, zu Beginn dem Deutschland-Bild der Franzosen, in dem wir erfahren, dass sich bereits Voltaire über die deutschen Kleinststaaten lustig machte, die man bequem in einer halben Stunde zu Fuß umrunden könne. Und Mirabeau schrieb 1786, das Deutschland kein Staat sei, der über eine Armee verfüge, sondern eine Armee, die über einen Staat verfüge. Das sollte sich in zwei Weltkriegen mehr als bewahrheiten. Aber auch positives wird beobachtet. Man lese z. B. gerne in Deutschland, sei von Natur aus literarisch und philosophisch („andernfalls würde man sich unter den schweren Wolken des Nordens zu Tode langweilen“) und habe ja schließlich den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Der setzte dann spätestens nach 1945 ein, als sich laut Chapoutot „eine freiheitliche Demokratie im besten politischen Wortsinn entwickelte, um die Frankreich die Deutschen nur beneiden kann“.
Seine Ausführungen im zweiten (gelben) Teil sind etwas feinsinniger, aber auch wertender in Bezug auf die Gegenwart. Das liegt vielleicht daran, dass die interpretierten Ereignisse noch nicht lang zurückliegen und sich Bezüge in die Gegenwart leichter herstellen lassen. In jedem Fall rauscht man durch diesen zweiten Teil, der ja aus vielen Kriegen und unendlichem Leid besteht, seltsam entrückt und von Euphorie getragen. Man scheint weit weg vom historischen Geschehen und es zeichnet sich die Gewissheit ab, dass all das Unrecht und die verquerten politischen Entscheidungen eines Tages zu etwas Besserem führen mögen. Hier scheint Chapoutot den Köder für sein Finale schon früh ausgelegt zu haben, wodurch einem die Lektüre ungemein erleichtert wird. Zum (tatsächlich) guten Schluss präsentiert er ein Deutschland, dass eng an der Seite Frankreichs steht und von diesem in Form von Emmanuel Macron freundlich und keck an die gemeinsamen Aufgaben erinnert wird. Er zeichnet die Entwicklung der Europäischen Union nach mit all ihren Errungenschaften, die heutzutage mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten scheinen. Dabei bleibt er wie stets kurzweilig aber auch ein wenig poetisch, wenn er die Gegenwart im Licht der dunklen Vergangenheit präsentiert, vor der sie erstrahlt und zum Kampf für den Erhalt der erreichten Privilegien einlädt: „Das Bestehen dieser Prüfungen macht Hoffnung auf ein reifes demokratisches Leben, auf die Entwicklung einer fruchtbaren sozialen Fantasie auf Gebieten wie Arbeitszeit und Ökologie, bei der Aufnahme von Fremden – und beim Aufbau Europas.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
August Werner - 2. Januar 2019 ID 11127
Link zum Sachbuch:
https://www.wbg-wissenverbindet.de/11701/unsere-geschichte#
Post an August Werner
http://www.ecotype.de
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