Gedopte Helden
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Bewertung:
Hat Odysseus gekifft? Auch nach der Lektüre des Buches weiß ich es nicht, denn Cannabis, die wohl bekannteste Droge, kommt im Buch nicht vor. Das könnte daran liegen, dass Hanfzubereitungen im Altertum kein Thema waren. Gegeben hat es sie sicher schon, doch war deren Wirkung im Vergleich zu den Drogen im Buch viel zu harmlos. Die beschriebenen Rauschgiftpflanzen und Gifte haben es in sich: Schwere Halluzinationen, Vergiftungen im Mutterleib, Hexenwahn und letztendlich der Tod sind die Konsequenzen aus ihrem Konsum, der längst nicht immer freiwillig erfolgte.
Der Begriff Droge wird im Buch im traditionellen Sinn benutzt, es handelt sich um getrocknete Pflanzenteile, Blätter, Blüten oder Wurzeln. Der Begriff findet sich nach wie vor im Wort Drogerie, wo es auch früher beispielsweise Pfefferminzblätter, aber keineswegs synthetische Rauschgifte zu kaufen gab. Über stärker wirksame Pflanzen verfügten Apotheken. Stechapfel, Bilsenkraut, Engelstrompete, Eisenhut, Fingerhut, Nieswurz, Christrose, Meerzwiebel, Adonisröschen, Maiglöckchen, Schneeglöckchen, Oleander, Schierling, Herbstzeitlose, weißer Germer, Alraune, Tollkirsche, Schlafmohn, Fliegenpilz…, sie alle können bei entsprechender Dosierung einen Menschen töten, aber auch diverse Halluzinationen auslösen. Doch die „richtige“ Dosierung dafür ist schwierig zu treffen, sodass ein Selbstversuch vermutlich mit dem Leben bezahlt würde.
Die Pflanzen sind weit verbreitet, blühen auch heute als Wild-, Unkräuter oder sogar als Zierblumen in manchem Garten. Auch die Protagonisten alter Sagen dürften ohne Probleme an sie herangekommen sein. Steckbriefe mit farbigen Bildern, die uns die gefährlichen Schönheiten zeigen, befinden sich bei den entsprechenden Kapiteln. Doch zurück zu den Wurzeln, in diesem Fall zu den Sagen und Mythen, bei oder in denen die genannten Pflanzen eine Rolle spielen (könnten).
Odyssee und Ilias, ihr Dichter Homer, sowie die griechischen Götter und ihr kompliziertes Familiengeflecht waren vielleicht Gegenstand im Geschichtsunterricht oder anderen Fächern der humanistischen Bildung - oder auch nicht. Sie werden jedenfalls im Buch kurz vorgestellt, so dass die interpretierten Sachverhalte auch für den weniger Belesenen zugeordnet werden können. Sogar Zitate aus der Odyssee schmücken das Buch.
Einigermaßen bekannt dürfte der einäugige Riese, der Zyklop, sein, und gerade für den haben die Autoren eine leicht nachvollziehbare Begründung gefunden:
"Wenn Mutterschafe oder -ziegen im Frühstadium ihrer Trächtigkeit auf der Weide Germer fressen, kann es zu Missbildungen des Embryos kommen. So bilden sich unter Umständen die Augenanlagen nicht richtig aus: Beide Augenanlagen verschmelzen zu einer einzigen Anlage mitten im Gesicht, und die Lämmer oder Zicklein werden mit einem 'Zyklopenauge' geboren. Eines der Germer-Alkaloide, das Cyclopamin, löst im Tierversuch zuverlässig die Bildung eines Zyklopenauges aus." (Wie man Männer in Schweine verwandelt und wie man sich vor üblen Tricks schützt, S. 20)
Und was im Tierversuch funktioniert, könnte gut und gerne auch am Menschen seine Wirkung zeigen. Ein Versuch verbietet sich hier von selbst. Das gilt auch für das Mutterkorn, einen giftigen Pilz im Getreide, in dem der Erfinder des LSD, Albert Hofmann, die beiden Komponenten Lysergsäureamid und Lysergsäurehydroxyäthylamid nachweisen konnte. Die tödliche Gefahr des Mutterkorns wird für die Zeit der Hexenverfolgung beschrieben:
"Stets neu genährt wurde der Hexenglaube außerdem durch Massenvergiftungen, wie sie gerade in Notzeiten immer wieder durch verunreinigtes Brotgetreide auftraten. Die Verunreinigung entstand durch den Mutterkornpilz (Claviceps purpurea) einen kleinen Schlauchpilz, der sich vor allem bei feuchtkühler Witterung auf den Ähren von Roggen und anderen Süßgräsern breitmacht." (S 76)
Im Buch geht es - und das ist die eigentliche Besonderheit gegenüber der bloßen Information über Pflanzenwirkstoffe - um mögliche Konsequenzen und Erklärungsversuche alter Mythen.
Obwohl die meisten Pflanzen in der Natur zu finden sind, eignet sich das Buch in keiner Weise als Rezeptbuch für eine moderne Drogenküche. Das Gebräu ist gefährlich – lebensgefährlich und die beschriebenen Wirkungen keineswegs wünschenswert. Es ist ein informatives Buch, das uns verschiedene Pflanzen und deren Inhaltsstoffe auf originelle Art und Weise vorstellt. Für den Fan von Odysseus und seinen Weggenossen ist das Buch ein echter Knüller, für den, der sich nicht für die alte Sagenwelt interessiert, bleibt es nur ein leicht lesbares Sachbuch zur Phytochemie und Pharmakologie.
Ellen Norten - 19. November 2020 ID 12609
S. Hirzel-Link zum
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Post an Dr. Ellen Norten
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