Kein Safe
Space. Nirgends
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Bewertung:
„Kennst du das Gefühl, wenn man sich seiner selbst mit einem Mal überdeutlich bewusst wird? Die Tatsache, dass man lebt, dass man etwas so vollkommen Absurdes wie ein Bewusstsein besitzt, dass man Gedanken entwickeln kann, die sich auf sich selbst richten?“ (Juli Zeh/ Simon Urban, Zwischen Welten, S. 376)
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Zwei Menschen schreiben sich intime Details aus ihrem Alltag. Es geht um die kleinen Dinge, ebenso wie um existentielle Fragen. Dabei nehmen sie keine Hand vor den Mund und scheuen auch nicht davor zurück, den anderen vor den Kopf zu stoßen.
Im 18. Jahrhundert prägte das perspektivisch unkonventionelle Genre des Briefromans die Erzählkunst. Bekannte Briefromane dieser Epoche sind J. W. v. Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) oder Gefährliche Liebschaften (1782) von Choderlos de Laclos. Die Unmittelbarkeit fiktiver Briefwechsel wird nun heute in prominenten Romanen und in Zeiten moderner Internetkommunikation wieder aufgenommen.
Im jüngst erschienenen Bestseller Zwischen Welten von Juli Zeh und Simon Urban mailen sich die Landwirtin Theresa und der Journalist Stefan nach einem zufälligen Wiedersehen seitenlange Nachrichten und chatten auf Social Messenger-Diensten. Diskussionsfreudig erinnern sie sich an ihre frühere Wohngemeinschaft als Studierende der Germanistik. Ihre Emails und Messages drehen sich um berufliche und private Erfolge, aktuelle gesellschaftliche Fragen und eine mögliche Annäherung ihrer Positionen.
Es fällt auf, dass insbesondere Theresa oft, wie in einer Art Tagebuch, eigene Probleme schildert, ohne auf Stefans vorherige Themen ausdrücklich einzugehen. Wenn er mit unsauberen Mitteln geführte redaktionelle Machtkämpfe problematisiert, berichtet sie in Ihrer Antwort von Brandstiftung und einer möglichen Afrikanischen Schweinepest auf ihrem Landgut. So bewegen sich auch die Leser meist zwischen den Welten, und der Austausch im vertraulichen Tonfall geht selten in die Tiefe. Diese mögliche Einschränkung der Kommunikation wertet Theresa indirekt mit eigenen Worten auf:
„Manchmal ist Flucht nicht feige, sondern klug. Menschen fliehen vor Kriegen und Naturkatastrophen, aber vielleicht gibt es auch andere Vorgänge, vor denen man fliehen sollte. Diffuse Vorgänge, schlecht sichtbar, Nebel aus Ereignissen, die nicht den Körper bedrohen, aber die Seele zerrütten.“ (S. 371)
Theresa, Landwirtin aus Schütte, gefällt sich gegenüber dem Intellektuellen Stefan auch sonst in pathetischen Floskeln oder selbstbezogener Herabgelassenheit. Wenn er auf eine schnellere Beantwortung seiner Nachrichten drängt, schreibt sie „Nerv nicht, Stefan“ (S. 247), nennt ihn „penetrant“ (S. 248), wiederholt „du Wimp“ (S. 332) oder benutzt Jugendslang: „Mach dich ehrlich, Digga.“ (S. 267). Sie zitiert jedoch seine früheren Ausführungen dann später in anderen Zusammenhängen (S. 203). Stefan ist an der verheirateten Freundin und Mutter zweier Söhne, offenbar nicht nur als Email-Kontakt, interessiert. Der stellvertretende Chefredakteur einer großen Hamburger Wochenzeitung macht der ehemaligen Mitbewohnerin und Kommilitonin mehrfach betont unterwürfig Avancen und charmante Komplimente. Sie lässt sich seine Annäherungsversuche gerne gefallen, kontert dann aber doch, dass ihr seine Probleme privilegiert erscheinen:
„Wer existentiell lebt (ich), muss nicht sensationell leben (du). Wer das existentielle verloren hat (du), braucht die Sensation.“ (S. 250)
Stefan wiederum missfällt Theresas fehlende gedankliche Flexibilität, was er sanft als Schicksalsarithmetik moniert:
„Während ich offenbar permanent rechts und links vom Weg nach Exklusivität Ausschau halten muss, trägst du Scheuklappen, Augen immer geradeaus.“ (S. 245)
Die Perspektivträger in Zwischen Welten diskutieren über ihre Schwierigkeiten, den herausfordernden beruflichen Alltag mit einem gesunden Privatleben unter einen Hut zu bringen, konfrontieren sich dabei auch mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen. Theresa stellt bedauernd fest, dass gemeinsame Maßnahmen mit der Dorfgemeinschaft zur Aufnahme möglicher Ukraine-Flüchtlinge sinnlos waren:
„Zu uns nach Schütte ist niemand gekommen, obwohl wir uns mit dem Ausbau des Hühnerstalls solche Mühe gegeben haben. Aber die Flüchtlinge wollen halt [...] gleich nach Berlin, wo es Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte und Apotheken gibt. Mit anderen Worten: Die Infrastruktur ist so beschissen, dass sich nicht einmal Kriegsflüchtlinge vorstellen können, hier zu leben.“ (S. 203)
Den beiden Ich-Erzählfiguren fällt es in ihren verengten Positionen mitunter schwer, sich gegenseitig Zugeständnisse zu machen. So ist die AfD für Stefan ein No-Go, anders als etwa für Theresa, deren Brandenburger Umfeld diese Partei wählt. Während sie sich gegenseitig mit Vorurteilen und Engstirnigkeit konfrontieren, beobachten sie auch in ihrem Alltag allgemeine Einschränkungen aktueller Debattenkultur. So glaubt Theresa, dass neutrale und außenstehende Positionen für Journalisten wie Stefan nicht mehr möglich sind:
„Erzähl mal deinen Kollegen, dass du im Ukraine-Krieg eine neutrale Position beziehst. Sie werden Hackschnitzel aus dir machen. Und dich als Putin-Versteher brandmarken.“ (S. 239)
Stefan macht Theresa selbst recht rigide eigene Ansichten zum Klimaschutz deutlich:
„An einer Stelle verstehst du mich nämlich. Ich bin tatsächlich der Meinung, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die die Politik nicht ignorieren kann. Ich würde das niemals öffentlich fordern, aber wir sind ja unter uns: Beim Klima bin ich gewissermaßen für eine Expertokratie. Da ist kein Spielraum mehr für politisches Gezänk. Es ist klar, was getan werden muss, und zwar so schnell wie möglich.“ (S. 145)
Stefan zeigt sich beeindruckt von den Abonnentenzahlen auf Social Media zweier jüngerer Kolleginnen (S. 261) oder vom ohrenbetäubenden Trillerpfeifenkonzert-Verve von Cancel Culture-Aktivisten an der Hochschule (S. 218). Hier wird eine Hochschuldozentin der Biologie daran gehindert, die Binarität der Geschlechter zu thematisieren. Stefan erinnert daran, dass auch Theresas und sein Lieblingsautor Martin Walser einst Schwierigkeiten hatte vor größerem Publikum zu sprechen. Das war, als Walser zu seiner vage-andeutungsreichen, im Kern rechtspopulistischen Rede in der Frankfurter Paulskirche anno 1998 Stellung beziehen wollte. Der Vergleich, bei dem der Roman fiktive Ereignisse (Cancel Culture) mit realhistorischen Begebenheiten (Antisemitismus) in Beziehung setzt, erscheint problematisch, da die gegenwartsbezogenen Bedingungen im Roman und in den 90er Jahren gänzlich andere sind.
Theresa hingegen erscheint beeindruckt vom Elan der Tochter eines anderen Landwirtes, Eva, die eine landesweite Widerstandsbewegung von unten nach Vorbild der Gelbwesten mit aufbauen möchte:
„Wenn ich sie frage, was sie mit »Handeln« meint, wird sie allerdings unscharf. Ihre These lautet, dass Brüssel und die Globalisierung an allem Schuld sind, an Wirtschaftskrisen, Kriegen und dem Klimawandel, und das die Politik schon lange nicht mehr in der Lage ist, dem globalisierten Raubtierkapitalismus das Handwerk zu legen. Nur das früher nicht Brüssel, sondern Washington an allem Schuld war.“ (S. 205)
Auch Eva hat viele Follower auf Social Media. Sie ruft in einem Podcast „zur Abschaffung sämtlicher internationaler Organisationen“ (S. 228) auf. Bald klagt Theresa selbst über eine fehlende Lobby der Landwirte:
„Wenn du heute versuchst, die Interessen der Bauern zu vertreten, dann heißt es: Egoismus! Lobbyismus! Die blöden Bauern heulen wieder rum, obwohl die Subventionen aus Brüssel kriegen. Und im Ministerium bekommt man nicht mal einen Termin. Ganz anders, wenn du mehr Diversität oder ein drittes Klo oder Safe Spaces forderst. Dann hört dir jeder zu, und du bist ein guter Mensch.“ (S. 268)
Sie steigert sich in eine Opferrolle herein, um zu rechtfertigen, warum sie letztendlich zu aktivistischen Mitteln greifen möchte:
„Wenn man sich zutiefst missachtet fühlt. Wenn man als minderwertig behandelt wird in dem, was man ist und was man tut. Wenn man langsam erdrückt wird von einer Politik, die übergeordneten Interessen oder medialen Launen folgt, statt sich für die Lage vor Ort zu interessieren.“ (S. 298)
Wenn Theresa verbohrt alle Schuld für ihre existentiellen Probleme einem abstrakt bleibenden, sogenannten System zuweist, macht sie es sich naturgemäß sehr einfach. Als sich zum Beispiel ein befreundeter Landwirt das Leben nimmt ignoriert sie den Zusammenhang mit dessen Spiel- und Trunksucht.
Auch die beiden naiv gezeichneten Hauptfiguren frönen ihrem Hang zum Alkohol.
Fiktive Zeitungsartikel werden in Emails hineinkopiert und erweitern so die Textsorte des Email-Romans. So wird unreflektiert über eine aufmerksamkeitswirksame Aktion der Cancel Culture-Bewegung berichtet, bei der Aktivisten ein „Denkmal“ für Stefans Vorgesetzten errichteten, um es zu zerstören. Grund für diese Aktion ist eine ungeschickte Äußerung des Abgebildeten über eine schwarze Kollegin. Dabei gibt der vom Happening sichtlich begeisterte Journalist sogar einen Text aus dem Song „Denkmal“ von Wir sind Helden wieder, der bei der Aktion angeblich gespielt wurde. Neunmalklug weiß er über den Namen der Leadsängerin Judith Holofernes zu berichten:
„Wir erinnern uns: Im Alten Testament schlägt Judith dem Holofernes den Kopf ab.“ (S. 317)
Das Autorenduo Juli Zeh und Simon Urban arbeitet nicht nur hier lustvoll mit maßlos schrägen Übertreibungen und fiktiven URLs (S. 157, 198, 331).
Stefan nimmt man die Rolle in der Chefredaktion eines wichtigen Wochenblattes nicht ab, wenn er schon in Privatnachrichten wenig Überzeugungskunst oder Kritikfähigkeit beweist. Wie ein Fähnchen im Wind revidiert er eine Meinung wieder und bringt wichtige Ideen nicht auf den Punkt. In der Tiefe der Auseinandersetzung erscheinen die Konflikte somit deutlich abgeflacht. Die Figurenzeichnung bleibt recht klischeehaft. Reale menschliche Konflikte werden schwer nachvollziehbar. Voller Plattitüden driftet die gesamte Handlung so in eine Parodie oder Groteske ab. Auch einige detaillierte seitenlange Beschreibungen (z.B. S. 413 ff.) erscheinen unglaubwürdig. Für die digitale Form sind die artifiziell romanhaften Emails sowieso stilistisch hanebüchen.
Kontroverse Reizthemen wie den Islam oder die muslimische Kultur in Deutschland klammert der Roman geflissentlich aus. Bei aller Aufgeladenheit erscheint Zwischen Welten recht inhaltsleer und macht es sich mit maßlosen Übertreibungen recht bequem. Wer sich mit einer überspitzten Präsentation des gegenwärtigen Diskurses gut unterhalten fühlt kommt vielleicht auf seine Kosten. Es fehlt aber eine tiefere Auseinandersetzung über das Leben in einer Zeit, die für viele als unerträglich erlebt wird. Vielleicht zeigen die genannten Kritikpunkte gerade das Problem des digitalisierten und oft verkürzten Diskurses auf. Um es mit Worten von Theresa zu sagen, die gerne auch an ihren Brieffreund Schulnoten vergibt: Das Ganze „wirkt aber auch ein bisschen hilflos. Drei minus“. (S. 216)
Ansgar Skoda - 29. April 2023 ID 14166
Luchterhand-Link zu
Zwischen Welten von Zeh/ Urban
Post an Ansgar Skoda
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