Monika Grübel / Peter Honnen (Hrsg.) | Jiddisch im Rheinland
Auf den Spuren der Sprachen der JudenKlartext Verlag. Essen, 2014 ISBN 9783837508864
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Faszinierende Kulturgeschichte
Die Judaistin Monika Grübel, wissenschaftliche Referentin beim LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn, und Peter Honnen, ein Spezialist für die Sprachen des Rheinlands, zu denen viele Rotwelsch-Dialekte und Händlersprachen zählen, haben unter dem Titel Jiddisch im Rheinland einen bemerkenswerten Sammelband mit sieben sprach- und kulturwissenschaftlichen Beiträgen vorgelegt.
Jiddisch und Rheinland, das ist, wie die Herausgeber schon auf dem Buchumschlag bekunden, – eine alte Geschichte, weil schon im Mittelalter in Köln jiddisch gesprochen wurde, wie jüngste Funde belegen; – eine lange Geschichte, in der über Jahrhunderte jiddisch und "rheinisch" sprechende Menschen in der Region zusammengelebt und miteinander gesprochen haben; – eine gemeinsame Geschichte: da sich die Sprachen von Juden und Christen gegenseitig beeinflusst haben; – eine abgeschlossene Geschichte: weil seit mehr als 100 Jahren im Rheinland niemand mehr jiddisch spricht; – eine aktuelle Geschichte: da sich im Wortschatz der rheinischen Dialekte, der alten Händlersprachen und der aktuellen Umgangssprache wie dem Ruhrdeutschen verblüffend viele Spuren des Jiddischen finden lassen.
Roland Gruschka, Lehrstuhlinhaber für Jüdische Literaturen an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, gibt in seinem Aufsatz über Westjiddisch an Rhein und Main und im übrigen Europa eine kurze Darstellung der historischen Sprache der Juden im westlichen Aschkenas. Er schildert das Jiddische als eine "Komponentensprache", eine "voll ausgebil-dete, eigenständige Sprache, die durch Sprachkontakt in einer besonderen Situation der Mehrsprachigkeit überhaupt erst entstehen konnte und die durch solche anhaltenden Sprachkontakte in ihrem gesamten Sprachbau und ihrer kulturellen Semantik ausgeformt wurde." Der Autor verdeutlicht, dass Sprachen, deren prägende Wirkung sogar über Epochen des unmittelbaren Sprachkontaktes hinaus anhält, als "Quellsprachen" (jiddisch: "schmélzwargschprachn") bezeichnet werden, wohingegen die Elemente, die tatsächlich ins Jiddische eingegangen sind, als deren "Komponenten" gelten, wobei darunter auch deren Dialekte, Varietäten und historische Sprachstufen zu verstehen sind. Zu unterscheiden sind die deutsche, die romanische, die hebräisch-aramäische und die slawische Komponente. Gruschka umreißt die beiden Sprachzweige West- und Ostjiddisch, kennzeichnet deren Verbreitung, Besonderheiten und Wandlungen, zeigt u.a. auf, dass sich Spuren des (West-) Jiddischen in heute mehrheitlich von Nicht-Juden gebrauchten Varietäten des Deutschen finden.
In ihrem Beitrag Die Sprachen der Kölner Juden im Mittelalter nach ihren schriftlichen Zeugnissen bietet Elisabeth Hollender vom Seminar für Judaistik der Goethe-Universität Frankfurt "eine erste Analyse einer besonderen Fundgruppe, die üblicherweise nicht mit archäologischen Ausgrabungen in Verbindung gebracht wird: Schriftfunde, in diesem Fall aus der Zerstörungsschicht aus dem August 1349, als das jüdische Viertel in Köln durch einen Angriff, der vermutlich von den Fleischern angeführt wurde, zerstört wurde." Sie gelangt zur Erkenntnis, dass die jüdische Gemeinde Kölns sprachlich – zumindest bis 1349 – vollständig integriert war. Das zeigt sich u.a. daran, dass die lokale Bevölkerung neben den familiären Namenstraditionen auch die Kölner Modenamen ihrer Zeit verwendete. "Insgesamt zeigen die Namen, wie sie auf den Schiefertafeln aus der Archäologischen Zone Köln überliefert sind", so Hollender, "dass die Kölner Juden im 14. Jahrhundert sich im Alltagsleben, obwohl sie neben Deutsch manchmal auch Hebräisch und romanische Sprachteile verwendeten, sprachlich nicht von anderen Teilen der Kölner Bevölkerung unterschieden. Gerade die Divergenz zwischen den hebräischen Namen in den Graffiti aus der Synagoge und den mehrheitlich deutschen Namen auf den Namenslisten der Archäologischen Zone zeigt, dass Hebräisch als Kultur- und Kultsprache verwendet wurde, parallel zur Verwendung von Latein in der christlichen Gesellschaft."
Zu den von Elisabeth Hollender ausgewerteten und in ihrer Analyse vorgestellten Schiefer-fragmenten gehört auch eines, dem sich Erika Timm, Emerita für Jiddistik an der Universität Trier, unter dem Titel Der Text auf dem Fundstück 596-10 zuwendet. Anhand einer Schindel, deren archäologische Datierung auf die Zeit vor 1349 weist, zeigt sich ausweislich der philologischen Deutung Timms "eine weitere Fähigkeit der Aschkenasen, nämlich die Beherrschung des ›literarischen‹ Deutsch." Es handelt sich "um den bisher ältesten von einem Aschkenasen für ein aschkenasisches Publikum, oder auch nur für sich selbst, niedergeschriebenen literarischen Text – mehr als 30 Jahre älter als die Sammlung von altjiddischen Verserzählungen in der 'Cambridger Handschrift' von 1382, darunter auch der aus dem Deutschen rezipierte 'Dukus Horant'."
Peri Terbuyken, Mitarbeiterin am Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz präsentiert in ihrem Aufsatz Gott, das Rheinland und die Welt im 19. Jahrhundert einen faszinierenden Bericht über die jüdisch-deutschen Tagebücher des Mainz-Kasteler Chasans Bernhard (Beer) Cahn (1793–1877), die sie selbst im Rahmen eines Forschungsauftrags transliteriert. Dieses einzigartige literarische Dokument ist nämlich auf Deutsch abgefasst, aber in hebräischen Lettern geschrieben, die indes an die Bedürf-nisse der deutschen Sprache angepasst wurden, d.h. der Verfasser "schreibt mit Vokalen – in Anlehnung an die jiddische Buchstabenzuordnung –, garniert diese hebräischen Vokal-zeichen durchaus mit ä-, ö- und ü-Strichelchen, wenn er deutsche Umlaute meint, und scheut auch nicht davor zurück, deutsche Doppelkonsonanten durch Wiederholung des hebräischen Buchstabens darzustellen." Hinzu kommt, dass Cahn zumeist rein phonetisch transliteriert, wodurch interessante jiddische und rheinhessische Spracheinflüsse erkennbar werden. Inhaltlich ist der Verfasser auf die Alltagsgeschichte Kastels, sein kulturelles Umfeld, sein jüdisches Leben, aber auch auf die große Politik und Zeitgeschichte fokussiert.
Der bekannte Sprachwissenschaftler Klaus Siewert, Präsident der Internationalen Gesellschaft für Sondersprachenforschung (IGS) widmet sich in seinem Aufsatz über Hebraismen in deutschen Sondersprachen jenen Sprachformen, "die sich aufgrund ihrer ursprünglichen oder aktuellen Funktion, aus irgendwelchen Gründen Dritte vom Verstehen ausschließen zu wollen, von anderen Sprachformen des Deutschen grundsätzlich unterscheiden." Sobald das Tarnungsinteresse von Sondersprachen im Vordergrund steht, spricht man von Geheimsprachen. Zu diesen zählt Siewert die Viehhändlersprache und Rotwelsch-Dialekte, die sich, u.a. durch die Einflechtung von Hebraismen, einiger Ausdrücke bedienen, die für Nichteingeweihte unverständlich bleiben. Wir erfahren zugleich etwas über Bedeutungsveränderungen: z.B. die semantische Antonymie, wie also aus dem jiddischen "meschores" für "Diener" in der Masematte der "maschores", also der "Chef" wird; ferner die semantische Umorientierung anhand des Masematten-Wortes "knebbelachiler" für "Bauer", also "denjenigen, der Brotbrocken isst".
Heinz H. Menge, Emeritus am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum weist in einer äußerst detaillierten Untersuchung (Jiddisch im Ruhrdeutschen) darauf hin, dass der Wortschatz einer Umgangssprache einem permanenten Wandel unterworfen ist und illustriert dies für Entlehnungen aus dem Deutsch der Juden durch den Vergleich dreier Wortlisten, von denen zwei aus dem Jahre 1940, die dritte vom Ende des letzten Jahrhunderts stammen. Er stellt fest, dass man dabei sowohl 1940 als auch 1999 einige Lexeme nicht antrifft, "die heute allgemein bekannt sind, oft sogar als Modewörter bezeichnet werden", z.B. "Zoff", "Chuzpe", "Goi", "Schabbes", "Schmu", "Tacheles" und "Zores". Überdies weist er darauf hin, dass es im Polnischen das Verb "malochen" nicht gibt: "Aber das Vorurteil, die Umgangssprache des Ruhrgebiets sei 'polnisches Platt', ist nicht aus der Welt zu schaffen."
Der Sprachwissenschaftler Peter Honnen, Mitarbeiter der Abteilung Sprachforschung des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) präsentiert in seinem kritischen Überblick über Jiddisch in rheinischen Dialekten u.a. ein akribisch dokumentiertes, übersichtlich angelegtes Wörterbuch mit Wortartikeln, die gekürzte Übernahmen aus dem Rheinischen Wörterbuch darstellen und unter dem jeweiligen Lemma in den entsprechenden Bänden zu finden sind. Auch die Belegorte hat der Autor verdienstvollerweise angegeben, "um so die Verbreitung und den tatsächlichen Gebrauch eines jiddischen Lehnworts im Rheinland zu dokumentieren und regionale oder lokale Schwerpunkte zu verdeutlichen."
Fazit: Ein kenntnisreich edierter, aufwendig gestalteter, brillant illustrierter Beitrag zur jüdisch-deutschen Sprach- und Kulturgeschichte...
Bewertung:
Christoph Gutknecht - 24. Februar 2014 ID 7633
Monika Grübel / Peter Honnen (Hrsg.) | Jiddisch im Rheinland
196 S., geb.
14,95 €
Klartext Verlag. Essen, 2014
ISBN 9783837508864
Siehe auch:
http://www.klartext-verlag.de
Post an Prof. Dr. Christoph Gutknecht
http://www.christoph-gutknecht.de
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