Pankaj Mishra | Aus den Ruinen des Empires
Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens S. Fischer Verlag, 2014 ISBN 978-3-10-048838-1
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Pankaj Mishra wollte 1992 Indien, das Land seiner Herkunft, kennen lernen. Damals war er ein junger Londoner Intellektueller, westlich gebildet und aufgewachsen im Epizentrum des westlichen Kapitalismus. Als er Indien für sich entdeckte, öffnete ihm diese intellektuelle Reise die Augen für eine Diskrepanz, die fürderhin sein Denken beschäftigen sollte: Die Spannung zwischen westlichem und östlichem Geist.
Bis heute wohnt Mishra jeweils ein halbes Jahr in der Einöde, in einem kleinen Dorf namens Mashobra, auf über zweitausend Metern Höhe; dort verbringt er seine Zeit äußerst spartanisch, Bücher sind sein Alltag, er liest und schreibt, er schreibt und liest, er kennt die westliche Kultur, er kennt die Kultur des sogenannten Ostens. Mishra ist ein Reisender zwischen diesen Realitäten, zwischen London und Mashobra, und doch auch ein Kosmospolit, ein Intellektueller von 44 Jahren, der für die führenden Zeitschriften und Magazine der westlichen Welt, der "New York Times", dem "New Yorker", der "New York Review of Books", dem "Guardian", der "Financial Times" oder der "London Review of Books" schreibt, der Essays zur politischen Situation sowie Romane verfasst, ein umfassender Geist, der sich nicht um die Schubladen der hiesigen Kulturindustrie schert.
Mishra, der Philosoph, der Kulturkritiker mit indischen Wurzeln, aufgewachsen in London, schreibt mit Vorliebe über den sogenannten "Osten", doch was soll das denn genauerhin sein, fragt man sich, ist das nicht ein kultureller Flickenteppich, der sowohl Indien als auch Japan, China und Afghanistan umfasst? Und wie steht es mit Russland? Der dortige Präsident sprach jüngst davon, Russland sei kein Teil Europas. Damit wäre auch die russische Föderation zu jenem Osten zu rechnen, von dem Pankaj Mishra spricht. Dennoch: Ist dieser kulturelle Flickenteppich tatsächlich vergleichbar mit dem "Westen", der in seinen Werten und seiner Identität, seiner Präsenz, Einheit und Permanenz seinerseits definierbar ist? Oder stellt sich vielleicht diese scheinbare Definierbarkeit des Westens, mit all ihren Bestimmungsankern, nachgerade als Illusion heraus?
Klar ist, dass für Mishra der sogenannte "Osten" eine Geschichte der Unterdrückung und Demütigung erzählt, eine qualvolle Entwicklung unter der materiellen, militärischen und kulturellen Prädominanz der westlichen Völker. In seinem außerordentlichen scharfsinnigen und so notwendigen Kompendium Aus den Ruinen des Empires erläutert er die Geistesgeschichte jenes Ostens und das lässt aufhorchen, regt zum Nachdenken an, zur kontroversen Diskussion.
Folgen wir Mishra, so gedieh der Kolonialismus des Westens vor den Schablonen eines irrealen Ostens, der zur Matrize und zum Anti-Schema der eigenen definitorischen Hoheit degradiert wurde, um vor diesem Negativ den Begriff einer überlegenen "Zivilisation" körnig werden zu lassen. Nur ex negativo korrelierte sich der Westen mithin als "Zivilisation", um im Gegenzug jenem finsteren oder bunten, jenem unaufgeklärten oder spirituellen, jenem barbarischen oder unterentwickelten Osten dieses zentrale Prädikat abzusprechen. Der Westen, so behauptet einst schon Edward Said 1978, benötige den Osten lediglich als Passepartout der eigenen Identität.
Mishra nun erzählt die Genealogie der östlichen Aversionen, zeigt die Ursprünge auf, und seine Darstellung gibt uns wertvolle Hinweise auf die Quellen jener hasserfüllten Kämpfe, deren Detonationen sich bis heute in Ground Zero wiederfinden, so dass eine Perspektive entsteht, die zur Matrix einer noch unscharfen Identität des vielstimmigen Ostens werden könnte.
Mishra berichtet von der Pariser Friedenskonferenz, 1919, deren erklärtes Ziel wir für gut befinden, aus den Trümmern einer alten, barbarisch anmutenden Welt eine neue, gerechtere Ordnung entstehen zu lassen, die unter anderem auf das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung, fußend auf dem der individuellen Autonomie, erbaut wird. Gerade in unseren Tagen liest sich dies aber wie ein Menetekel, wenn jene mühsam erstrittenen Errungenschaften durch den russischen Nationalismus in Frage gestellt werden. Mishra nun sieht in jener Konferenz bereits die schizoide Totalität des Westens begründet, die bis heute das Treibgut im Wellengang jeder supranationalen Kooperation ist: Während die US-amerikanische Regierung in Person von Woodrow Wilson einst jenem Selbstbestimmungsrecht der Völker wie einem heiligen Gral huldigte, brach er selbst, im Gegenzug, jenes zentrale Prinzip, soweit es nicht um Deutschland, Belgien, Frankreich, sondern um Indien, China und Afghanistan ging. Für Mishra wird die "Unordnung" dieser Welt gerade in dieser westlichen Welt-Ordnung besonders augenfällig - denn die Heteronomie jener östlichen Völker wird vom Westen offensichtlich als ein Naturgesetz betrachtet. Das Echo jener Arroganz aber hallt durch die gesamte US-amerikanische Außenpolitik des vergangenen Jahrhunderts: Während die USA interveniert und einmarschiert, wo auch immer ihre wirtschaftlichen oder geostrategischen Interessen tangiert werden, darf sich dies kein anderes Land, vor allem aber kein sogenanntes "östliches" Volk, leisten.
Für Mishra erklärt jene Ur-Lüge Willsons, jenes doppelte Maß einer zweitgeteilten Welt die persistente Kausalität der Ost-West-Eskalation: Willkürliche Intervention, beliebige Grenzziehungen, Nation-Building auf Grundlage einseitiger Beschlüsse über die Köpfe der betroffenen "unterentwickelten" Völker hinweg, Nationalstaaten, die per Dekret jenseits aller kulturellen Zusammenhänge konstruiert werden, Demokratiesysteme, die lediglich das westliche Befinden widerspiegeln und kulturell blind sind, Taubheiten gegen die Vielstimmigkeiten der Völkergemeinschaft, all dies, nennen wir es: die Ideologie eines neutralen demokratischen Liberalismus aus dem Schoß des "Westens" und zum angeblichen Wohle der gesamten Menschheit, diese überhebliche Star-Trek-Mythologie, die den Völkern des Ostens gleich Aliens vorgaukelt, eine für alle Menschen und Völker und Nationen und Kulturen gleichermaßen formal verbindliche Liberalität definieren zu können - hierin liegt für Pankaj Mishra ein Grundirrtum des Westens.
Mishra geht in seinem Buch so vor, dass er weltgeschichtlichen Ereignisse mit den Lebensläufen und Gedanken einzelner, meist unbekannter Figuren parallel entwickelt. So ist die Rede von Swami Vivekananda, einem frühen spirituellen Führer Indiens im 19. Jahrhundert: "Für diese Zivilisation", schrieb Vivekananda über den Westen, "war das Schwert das Mittel, Heroismus das Hilfsmittel und der Genuss des Lebens in dieser und der nächsten Welt das einzige Ziel."
Gegen die westliche Politik, gegen das westliche Denken, aber auch gegen das westliche Lebensmodell wendet sich Vivekananda voller Zorn und Abneigung. Hiergegen ruft Mishra den Osten dazu auf, nicht wie der Westen einst, ex negativo und mit dem Schwert, sondern substantiell und selbstbewusst ohne Aggression die eigenständigen Identitäten zu entwickeln und zu verteidigen. Dies gelte aber, so Mishra, nicht nur für den Osten, sondern auch für den Westen.
Mishra beschreibt im Fortgang seiner Darstellung zunächst Jamal al-Din al-Afghani, einen Denker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der durch Indien, den Iran, die Türkei und Ägypten reiste, anfangs bemüht, seine eigenen Vorstellungen einer gerechten Welt Ausdruck zu verleihen, der sich später aber, resigniert, mit neuer Ideologie, zu einem Vorläufern jenes islamistischen Terror entwickelte, dem die Welt bis heute ausgesetzt ist.
Eine andere Figur ist Liang Qichao, laut Mishra "der erste moderne Intellektuelle Chinas". Liang Qichao erlebt am eigenen Leib die Arroganz und Aggression des Westens, der sein Volk versklavte und ihm seinen Stolz nahm, etwa durch die Opium-Seuche im Zuge der britischen Handelspolitik. Später sah Liang Qichao einen Ausweg gegen das westliche Modell nur noch im militaristischen und autokratischen Japan. Die letzte Figur ist Rabindranath Tagore, ein bengalisches Universalgenie, ein Mann des Friedens, der die vernichtende Macht des Geldes im Westen anprangerte und den Nobelpreis erhielt, im Osten jedoch bis heute kontrovers diskutiert wird. Tagore sagte einmal, es bestehe kein Anlass, dass die Asiaten der Ansicht sein müssten, "der Aufbau einer Nation nach europäischem Vorbild wäre die einzige Art von Zivilisation und das einzige Ziel des Menschen". Die chinesische und die indische Zivilisation, 5000 Jahre alt die eine, 4000 die andere, sollten genügend Selbstbewusstsein aufbringen, ihre eigene Identität auch weiterhin zu definieren und zu leben. Und der Bengale Aurobindo Ghose schrieb: "Die moderne Moral und das moderne Empfinden rebellierten gegen die Knechtung einer Nation durch die andere, einer Klasse durch die andere, eines Menschen durch den anderen. Der Imperialismus hatte sich vor diesem modernen Empfinden zu rechtfertigen und konnte das nur, indem er vorgab, ein Treuhänder der Freiheit zu sein, mit dem höheren Auftrag, die Unzivilisierten zu zivilisieren." Eine "blinde Nachahmung" des Westens jedenfalls hält Mishra nicht für zielführend. Denn vor allem die westliche Idee des Nationalstaates hält er für eine der Hauptursachen von Krieg und Auseinandersetzung. Mishra ist überzeugt: "Der Bann der westlichen Politik ist endlich gebrochen. Der Aufstieg Asiens und das Selbstbewusstsein asiatischer Völker vollenden deren Revolte, die vor mehr als einem Jahrhundert begann. In vielerlei Hinsicht ist dies die Rache des Ostens."
Als Philosoph arbeitet Mishra an einer zeitgemäßen politischen Philosophie vor dem Hintergrund der veränderten globalen Lage: "Der Westen hat immer gedacht, er weiß, wie Gesellschaften funktionieren. Dabei ist die Herrschaft des Westens eine sehr kurze, im Vergleich etwa zum chinesischen Reich. Und ein Wirtschaftsmodell wie der Kapitalismus etwa kann in einem Land funktionieren und in einem anderen Land nicht. Selbst eine Idee wie die der Demokratie muss erst wieder gereinigt werden von allen Übeln, die in ihrem Namen begangen wurden." Die unterschiedlichen Formen des Imperialismus sind auch in ihren zeitgenössischen, mitunter subtileren Varianten zerstörerisch. Mishra spricht sich daher gegen Zentralismus und Universalismus aus und fordert eine neu verstandene kulturelle Autonomie, wobei er westliche Denkgrenzen hinter sich lässt und neue Wege erörtert, die aktuelle Heteronomie des Ostens abzubauen. So zeige die Finanzkrise deutlich, dass es für die USA nicht mehr darum gehe, in anderen Teilen der Welt Nationalstaaten aufzubauen, sondern darum, dass sie zunächst zu Hause ihren eigenen Nationalstaat reparieren.
In einem Interview drückte Pankaj Mishra diese Aufgabe folgendermaßen aus: "Wir leben wie Blinde in unserer Zeit, wir sind abgeschnitten von unserer Geschichte, wir sind verdammt zu intellektueller Armut - wir müssen zurückschauen, um zu verstehen, wo der falsche Weg eingeschlagen wurde und welche Ideen der Vergangenheit heute noch brauchbar sind."
Bewertung:
Jo Balle - 18. April 2014 ID 7760
Pankaj Mishra | Aus den Ruinen des Empires
Hardcover
€ (D) 26,99 | € (A) 27,80 | SFR 36,90
S. Fischer Verlag, 2014
ISBN 978-3-10-048838-1
Siehe auch:
http://www.fischerverlage.de
Post an Dr. Johannes Balle
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