Aussichtslos-
abwegige
Anschreiben
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Bewertung:
„Eine Gillette-Klinge, die sich in ihre Handflächen gräbt. Dieser eine Handschlag. Blutsbrüder. Willst du Romantik? Keine Sau will Küsse sehen. Gillette-Klingen im Bett, Schnitte ins Fleisch, während sie sich aneinanderreiben. Aufgerissene Haut, funkelnd und blutend, mit weit geöffneten Augen. Sex; Gillette, Sex.“ (Joey Comeau, Überqualifiziert, S. 24)
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Das Beste im Mann sei nicht ein Gesicht so weich wie ein Babypopo, so der heute 37jährige kanadische Schriftsteller Joey Comeau in seinem kurzweiligen, fingiert autobiographischen Bändchen Überqualifiziert (2018, Orig. Overqualified, 2009). Ihn bringt die Marke Gillette des multinationalen Konzerns Procter & Gamble zu deutlich weitreichenderen Assoziationen.
Jobsuchen sind oft zermürbend und können essentiell verunsichern. Schon das Anschreiben auf mögliche Stellenanzeigen stellt viele Bewerber vor eine gewisse Herausforderung. Schließlich gilt es, erfolgsversprechend für sich zu werben. Und Anschreiben sollten nie zu gleichbleibend, einseitig und zu wenig arbeitgeberbezogen sein, wie einschlägige Ratgeber warnen. Oft folgen Anschreiben trotzdem regelhaften Mustern oder Vorlagen, was Recruiter recht schnell ermüden kann.
Comeau wählte einen ausgesprochen ungewöhnlichen Weg der Wunscharbeitgeberansprache. Er veröffentlichte etwa 40 Anschreiben, die er an die unterschiedlichsten Unternehmen richtet. Sein Werk ist eine Arbeitgebersuche gegen alle Regeln, bei der eine gewisse Vergeblichkeit in allen Facetten zelebriert wird. Hier heißt es mal einleitend:
„[…] vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, meinen Lebenslauf zu prüfen, obwohl ich gar keinen habe.“ (S. 13) oder „Ich muss mich für die Direktheit dieses Begleitschreibens entschuldigen.“ (S. 29)
Der Autor wendet sich teilweise an prominente und auch von Konkurrenten überlaufene Arbeitgeber, wie Greenpeace, die New York Times, den Spielzeughersteller Parker Brothers oder die US-amerikanische Filmproduktionsgesellschaft Paramount. Er bewirbt sich als Verkäufer, Redakteur, Buchhalter, Spielentwickler, Umweltberater, Lebensversicherungsvertreter, bilingualer Sachbearbeiter, als Systemanalyst in einem Krankenhaus, als Forscher für die Linguistik, als Professor und sogar als Santa Claus. Seine Qualifikationen für diese Stellen spielen aus seiner Sicht dem Anschein nach erst einmal keine Rolle.
In seinen unterschiedlich langen Anschreiben gerät er schnell in eine gehobene Erzählerposition. Er gebiert sich unflätig und frech, provokant und enthemmt. Der Adressant berichtet ungefiltert über sein Leben. Er erzählt in den Briefen von einem Bruder, der einen Unfall hatte und im Krankenhaus liegt. Auch über sein Sexualleben weiß er einschlägige Details zu berichten. Oft hat man den Eindruck, dass der stets direkt und kumpelhaft mit einem „du“ angesprochene Adressat schnell austauschbar wird, da Comeau das Hierarchiegefälle und die Arbeitgeberrolle schnell beiseiteschiebt, um über seine augenblickliche Befindlichkeit zu berichten. Dem Präsidenten gegenüber erwähnt Comeau etwa, was er „verdammt scheiße“ (S. 41) findet. Im Brief an das Laserprinterunternehmen Xerox Canada gefällt er sich dabei, mit Markennamen, Akronymen, Passwörtern, und undechiffrierbaren Codes zu jonglieren. Gegenüber dem US-amerikanischen Fernsehprogrammanbieter HBO behauptet er, er sei bekannt mit Clint Eastwood und eng befreundet mit John Wayne und Bruce Willis. Dem kanadischen Unternehmen Irving Oil bietet Comeau eine Sabotage an. Hier lässt er durchblicken, er wolle „schnell leben und jung sterben“ (S. 9).
Die Briefe lesen sich wie unterhaltsame Skizzen für einen Poetry Slam. Die Gliederung des Werkes in drei Teile irritiert etwas, da kein sich aufbauender Spannungsbogen und keine aufeinander Bezug nehmenden Pointen deutlich werden. Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, ob die möglichen Anschreiben tatsächlich in irgendeiner Form abgeschickt wurden. Waren Bewerbungsunterlagen, auf die manchmal Bezug genommen wird, angehängt? Haben die Adressaten möglicherweise den Eingang bestätigt oder sogar Rückmeldungen gegeben? Wenn man die Briefe liest, werden immerhin stets sowohl auf der inhaltlichen wie auch auf der Textsortenebene ein witziger Eifer und eine dreiste Waghalsigkeit deutlich, mir der sich der Sender an seine ausgewählten Empfänger einschlägiger Geschäftsbranchen richtet, wie etwa im Fall von Absolut Vodka:
„Das habe ich von meinem jüngeren Bruder gelernt. Man schaut nicht, wohin. Man springt und vertraut darauf, dass der Körper weiß, was er tut. Du verstehst nicht, was ich meine, oder, Absolut? Deine Werbung ist voll schöner Bilder, voll cleverer Designs. Sie sieht wirklich gut aus. Ich bewerbe mich bei dir, weil du nicht zu verstehen scheinst, was es bedeutet, cool oder stark oder unbesiegbar zu sein. Wenn es jemand wissen sollte, dann du. Das ist es, was Alkohol mit dir macht. Er macht dich stark. Du kannst jeden besiegen. Du kannst jede Frau verführen. Du kannst schneller fahren als der Tod.“ (S. 16)
Ansgar Skoda - 17. August 2018 ID 10852
Verlags-Link zum Buch:
https://www.luftschacht.com/produkt/joey-comeau-ueberqualifiziert/
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