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Rezension

Lesen im Urlaub >>> Mark Sarvas, Harry, die Zweite





Kaum zu glauben, wie leicht es ist, eine erfolgreiche Geschichte zu erzählen. Das mit dem Thema sollte zu schaffen sein: Geschichten über die Liebe kommen für gewöhnlich gut an. Auch vom Sterben lassen wir uns gerne erzählen. Am besten kombiniert man beides. Dazu nehme man ein überschaubares Personal mit zumutbaren Charakteren und stricke daraus eine überschaubare Geschichte. Für feinere Geister könnten dazu exquisite Intrigen serviert werden. Sollte eben aus dem prallen Leben gegriffen sein. Und humorvoll möge es bitteschön zugehen. Insgesamt eben vergnüglich. Am Ende wäre eine ernsthafte Moral begrüßenswert. Dachte so der Amerikaner Mark Sarvas? Sein Roman Harry, die Zweite enthält Szenen zu einem perfekten Hollywooddrehbuch. Jetzt müsste nur noch jemand mit genügend Kapital auf die Idee kommen, diese Geschichte zu verfilmen. Es könnte ein manierlicher Streifen werden. Doch Vorsicht ist geboten. Soll keiner sagen, er sei nicht gewarnt gewesen! Denn dieser Erstlingsroman ist ein Taschenspielertrick. Eine ausgebuffte Mogelpackung, der man erst nach der ersten Hälfte des Buches auf die Schliche kommt. Aber der Reihe nach!

Anna, der distinguierten Ehefrau des Helden Harry Rent, ist gerade ein peinliches Missgeschick zugestoßen: Sie starb an den Folgen einer Schönheitsoperation. Harry erbt ihr Vermögen, kann aber nichts damit anfangen. Stattdessen verliebt er sich in die Kellnerin Molly. Während die Familie über Annas Tod trauert, befindet sich der Ehemann auf Balz. Er liest Alexandre Dumas’ Abenteuerroman Der Graf von Monte Christo. Um Molly zu erobern, beschließt er, wie Edmont Dantés, der Held in Dumas’ Roman, zum Wohltäter der Menschheit zu werden. Dantés kam zu Reichtum durch den Schatz eines befreundeten Mitgefangenen. Nach seiner Flucht aus dem Gefängnis nimmt er eine neue Identität an und tut fortan Gutes im Verborgenen. Harry will Molly beeindrucken, indem er wie Dantés ein guter Mensch wird. Dafür mischt er sich in das Leben ihrer global gescheiterten Freundin Lucille ein. Er begleicht ihre Rechungen, sorgt für ihre Gesundheit und besticht ihren Sohn Carlos, der im Gefängnis sitzt, endlich wieder mit der Mutter zu sprechen. Doch diese unbeholfenen Versuche scheitern und Harrys Deckung fliegt schließlich auf.

Der Titel des Romans deutet auf die zweite Chance im Leben hin. Harry muss einsehen, dass schon die erste Chance ein Hauptgewinn war: Die wunderschöne Anna, Spross einer steinreichen Familiendynastie, verliebt sich ausgerechnet in den Versager Harry Rent. Was er zu bieten hatte? Nicht viel. Anna fand, Harry sei „gütig“. Weshalb also braucht Harry um Himmels willen eine zweite Chance? Um diese Frage zu beantworten, unternimmt Sarvas einige Ausflüchte und Täuschungsmanöver. So führt er uns die Tapsigkeit seines Helden vor Augen. Oder er weist Harry mangelnde Courage nach. Er bietet dem Leser sogar einen Seitensprung an, um ihn in Misskredit zu bringen. Doch das alles kann nicht überzeugen. Harry bleibt eine grundsympathische Figur.

Als Harry das Scheitern seiner Hilfsaktionen erkennt, ändert sich der Charakter dieser Geschichte. Die unterhaltsame Seichtheit stellt sich als kalkulierter Etikettenschwindel heraus. Nach annähernd dreihundert Seiten gestattet Sarvas dem Leser einen Blick hinter die Inszenierung. Und damit beginnt, sehr spät, das Wunder dieses Buches, denn fortan demaskiert der Autor die Welt seines Protagonisten, der sich nun neu erfinden muss. Indem Sarvas mit den Erwartungen seiner Leser spielt, wird die dünnwandige Seelenlosigkeit von Harry Rents Welt greifbar. Eine fadenscheinige Welt aus Lügen und Halbwahrheiten, der man allzu gerne auf den Leim geht. Harrys Welt gleicht einem hundsmiserablen Theater der Eitelkeiten, das alles darauf anlegt, den Zuschauern am Ende ihre Illusionen zu rauben. Und so muss Harry erkennen, dass er in einer moralischen Scheinwelt lebte, in der auch das Gute einen Marktwert besitzt, den er nicht überbieten kann. Interessanterweise variiert Mark Sarvas damit eine platonische Lektion: Boshaftigkeit ist die Schwester der Falschheit. Nur wer gut ist, lebt auch in der Wahrheit. Für Sarvas ist Boshaftigkeit daher lediglich die Kehrseite des Selbstbetruges. Eine Hässlichkeit, die man sich nicht leisten sollte.

Der Mensch ist also nur Mensch, wenn er Gutes tut? Ist das die Botschaft? Das wäre erschreckend naiv, wird man sagen. Tatsächlich aber erweist sich Mark Sarvas, der Gründer des lesenswerten Literaturblogs The Elegant Variation, in seinem Debütroman als ein lupenreiner Moralist, der die boshaften Absurditäten des Alltags wie ein Missionar für seine Zwecke nutzt. Und wie jeder anständige Moralist ist Sarvas ein unerbittlicher Ankläger menschlicher Niederungen. Doch das Instrument seiner Anklage ist ein ausgesprochen feiner Humor, der dem Leser spielendleicht vor Augen führt, wie albern ein selbstsüchtiges Leben ist.


Jo Balle - 18. Juli 2012
ID 6098
Mark Sarvas, Harry, die Zweite
352 Seiten, gebunden
Euro (D) 19,95 | sFr 28,90 | Euro (A) 20,60
ISBN: 978-3-462-04070-8
Kiepenheuer und Witsch 2009



Siehe auch:
http://www.kiwi-verlag.de


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