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mit Staudamm
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„Lünebach war davon überzeugt, den Grund des Universums erreicht zu haben, mitten ins Zentrum einer gigantischen Honigwabe vorgedrungen zu sein, in eine Welt, deren Knotenpunkte von Galaxiehaufen besetzt waren, wo die Lebensenergien sich aus dem süßen Inneren durchlässiger, wachsartiger Zellwände speisten, ewig explodierende Sterne funkelten, die einer nach dem anderen zerfielen und nach Jahrmillionen neu entstanden, ein Universum aller möglichen wahrnehmbaren Dinge. Er hatte Milchstraßen mit Milliarden von Sternen bereist, hatte herausgefunden, dass dieselbe Energie, die einen Stern zur Erde fallen lässt, Galaxien mit unsichtbaren Ketten verbindet, auch die Liebe entzünden und erlöschen lassen kann, und dass der gesamte Kosmos sich zu harmonisch schwingenden Melodien bewegt.“
(Norbert Scheuer, Am Grund des Universums, S. 147)
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Der Protagonist Lünebach befindet sich nicht etwa auf dem Weg zum Mond, sondern gewinnt seine rauschhaften, vielleicht auch imaginären Entdeckungen inmitten der Eifel in der Gemeinde Kall. Romane mit Regionalbezug erfreuen sich erstaunlicher Beliebtheit, denke man etwa an die Bretagne-Krimis von Jean-Luc Bannalec. Doch auch aus der schönen Eifel in Nordrhein-Westfalen lassen sich spannende Begebenheiten erzählen, die Bestseller-Potential haben.
Der in Prüm in der Westeifel geborene Systemprogrammierer Norbert Scheuer widmet sich in seinem mehrfach preisgekrönten literarischen Werk seiner Heimat. Er knüpft mit seinem Roman Am Grund des Universums (2017) lose an Figurenkonstellationen aus seinen Vorgängerwerken an und lässt in einer dörflichen Atmosphäre tiefschürfende Konflikte zwischen seinen Figuren entstehen. Ein Stausee soll vergrößert und ein Ferienpark eingerichtet werden. Im Ort kursieren diesbezüglich allerlei Gerüchte, und viele Dorfbewohner beschäftigen sich intensiv mit dem geplanten Vorhaben. Ein Großteil der Episoden und Momentaufnahmen spielt in einer Cafeteria in einem Supermarkt. Hier hat eine Gruppe von Senioren ihren Stammplatz, die sogenannten Grauköpfe. Sie tauschen Neuigkeiten aus. Ihr Wissen dient sozusagen als ein kollektives Ortsgedächtnis, das konsequent Personenschicksale zuzuordnen vermag, etwa wenn Außenstehende die Cafeteria betreten:
„Die Alten wissen, dass eine der Frauen die Tochter eines der Brüder des besten Freundes vom Sohn eines Graukopfes ist, die andere Frau ist in den Neunzigerjahren noch als kleines Mädchen mit ihren Eltern nach Kall gekommen und kurz vor dem Abitur wieder weggezogen. Die beiden Frauen sind zusammen zur Schule gegangen. Die alten Männer erinnern sich jetzt genau an die beiden, überschlagen, wie alt sie inzwischen sind, sehen die Kallerin als kleines Mädchen vor sich, pummelig und mit einem gelben Band im Haar, das Gesicht voller Sommersprossen, die alle verschwunden sind.“ (S. 203)
Genauso wie die Seniorengruppe die Cafeteria-Besucher neugierig beäugt, betrachtet auch der Erzähler seine Figuren in flüchtigen Momentaufnahmen. Am Grunde des Stausees, der im Verlauf des Romans tatsächlich im Zuge der geplanten Vergrößerung abgepumpt wird, vermuten die Grauköpfe allerlei Bodenschätze und Geheimnisse. Hierrüber wird ebenso viel spekuliert wie über das geplante Vorhaben selbst. Asiatische Schriftzeichen und Mundart-Passagen verstärken den Eindruck des treibgutartigen und geröllhaften, wenn sich stets neue Entwicklungen am Horizont andeuten. Dabei werden jedoch auch einige berührende Einzelschicksale beleuchtet, z.B. die aufkeimende Freundschaft zwischen dem Waisenmädchen Nina und der Witwe und wohlhabenden Pensionärin Sophia. Beide haben eine lebendige Phantasie, mit der sie der Vergangenheit nachhängen. Scheuer verleiht in langen Passagen ihren Traumvorstellungen Ausdruck, wenn etwa Nina an ihren lange verschollenen Bruder Gregor denkt:
„Sie stellte sich Gregors Reise auf dem Ozean vor, wie er in seinem kleinen Boot immer weiter trieb; das Meer war wie ein riesiger fliegender Teppich, tropische Vögel kreisten, Fliegende Fische klatschten auf die Wellen. Im Laufe des Tages drehte der Wind immer wieder, Flaute wechselte mit Gegenwind, exotische Schmetterlinge flatterten über dem Wasser, ließen sich auf dem Boot nieder und flogen weiter, nachdem sie sich ausgeruht hatten. Nachmittags kam eine Brise auf, abends verwandelte die Sonne den Himmel in ein dämmriges Rosa. Gregor stand nackt im Boot, groß, bärtig und braun gebrannt, wusch sich und aß dann zu Abend. Die Sonne verschwand am Horizont, kleine helle Wolken schoben sich zusammen. Es wehte kein Wind mehr, unten im Wasser funkelten Millionen winziger phosphoreszierender Lebewesen.“ (S. 143)
Ansgar Skoda - 13. September 2018 ID 10907
Link zum Buch:
https://www.chbeck.de/scheuer-grund-universums/product/20244634
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