Erbarmungslos
vorverurteilt
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Bewertung:
„Der Geist ist wie ein Ding, das Staub ansammelt. Das Ding weiß so wenig wie der Geist, wieso an ihm haftet, was an ihm haftet. Aber wenn mal was auf dir gelandet ist, geht es nicht mehr weg…“
(James Baldwin, Beale Street Blues, S. 183)
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Das ungeborene Kind steht unter keinem guten Stern. Der 22jährige Vater sitzt auf unbestimmte Zeit im Gefängnis. Alonzo Hunt, genannt Fonny, ist Bildhauer. Er weiß gar nicht, für welches Vergehen er inhaftiert wurde. Seine schwangere Verlobte Clementine Rivers, genannt Tish, ist 19 Jahre alt und arbeitet als Parfümverkäuferin. Sie besucht ihn täglich. Beide sprechen dann durch eine Glaswand. Sie kennen sich von kleinaufan. Nach einem Besuch bei einem Anwalt erfährt Tish, was Fonny angelastet wird. Als einziger Farbiger wurde er einer Puerto Ricanerin gegenübergestellt, die behauptet, von einem Farbigen vergewaltigt worden zu sein. Die Frau, die ihn anschuldigte, ist nicht mehr auffindbar. Der Prozesstermin verschiebt sich deshalb regelmäßig. Tish weiß, dass Fonny unschuldig ist. Täglich wird sie mit seiner Bitte konfrontiert, ihn aus dem Knast zu holen. Die verzweifelte junge Frau sucht Unterstützung bei Familienangehörigen und beim Vater ihres Verlobten. Alle glauben zu wissen, warum Fonny ins Gefängnis kam. Er wurde vor allem aufgrund seiner dunklen Hautfarbe eingesperrt. Abgeführt wurde Fonny bezeichnenderweise von dem weißen Polizisten, der ihn aufgrund von Zeugenaussagen nicht bestrafen konnte, als Fonny einen Pöbler tätlich angriff, der Tish brutal belästigte.
Beale Street Blues (erstveröffentlicht 1974) spielt in Harlem im New York der 1970er Jahren. Der Roman handelt von staatlicher Willkür durchdrungen von einem massiven Rassismus. Der afroamerikanische Autor James Baldwin (1924-1987) kritisiert in seinem Werk das US-Gefängnissystem, das er unter gewissen Gesichtspunkten als Fortsetzung der Sklaverei betrachtet. Dabei wird Baldwin nie polemisch, und sein Werk ist nie bloß Protestliteratur. Es handelt vielmehr von der Liebe und Aufopferungsbereitschaft in einer Familie, die sich nicht mit grober Ungerechtigkeit abfinden möchte. Zu seinem sozialkritischen Roman inspiriert wurde Baldwin durch den Fall seines Freundes Tony Maynard, der wegen eines Mordes angeklagt wurde, den er nicht begangen hatte. Maynard saß sechs Jahre im Gefängnis, bevor die Anklage gegen ihn fallen gelassen wurde. Fonnys Gefängnisalltag wird als grausam entmenschlichendes „Inferno“ (S. 196) wahrgenommen:
„Er kommt in Einzelhaft, weil er sich weigert, vergewaltigt zu werden. Er verliert einen Zahn, schon wieder, und verliert fast ein Auge. Etwas verhärtet sich in ihm, etwas verändert sich für immer, seine Tränen gefrieren in seinem Bauch. Aber er ist vom Sporn der Verzweiflung gesprungen. Er kämpft um sein Leben. Er sieht das Gesicht von seinem Kind vor sich, er hat eine Verabredung, die er einhalten muss, und er wird da sein, das schwört er, während er in der Scheiße sitzt, schwitzend und stinkend, wenn das Kind da ist.“ (S. 205)
Der Buchtitel Beale Street Blues ist einem Jazz- und Bluessong aus dem Jahre 1916 von W. C. Handy entlehnt. Die Beale Street, eine Straße in Memphis (Tennessee), steht hier beispielhaft für ausweglose Armut, Sucht und Gewalt in einer von Afroamerikanern geprägten Halbwelt. Diesem Viertel, von denen es in Amerika heute noch viele gibt, wollte Baldwin mit seinem Roman eine Stimme geben. Ein gewisser musikalischer Rhythmus durchdringt auch das Erzählte. Einige Songs afroamerikanischer Musikgrößen fließen in die Erzählung mit ein; u.a. werden Billie Holiday, Marvin Gaye, Ray Charles oder B.B. King erwähnt. Erzählt wird der Roman übrigens ausschließlich aus der Perspektive von Tish. Es irritiert etwas, dass auch Abschnitte, bei denen Tish nicht dabei war, meist rückblickend aus ihrem Blickwinkel geschildert werden. Das vielschichtige, kurzweilige und unterhaltsame Werk überzeugt jedoch insgesamt in der Neuübersetzung von Miriam Mandelkow. Gerade in Zeiten eines die Vereinigten Staaten regierenden, offen rassistischen Präsidenten, der mit populistischen Mitteln alte Vormachtstellungen zurückerobern will, ist es wichtig, sich an erschütternde Ungerechtigkeiten zu erinnern. Geeignet ist Beale Street Blues sicherlich auch als eine willkommene Ergänzung für einen Kinobesuch von Barry Jenkins Adaptation des Romans. If Beale Street could talk läuft seit 14. Februar in den Kinos und wurde mit zahlreichen renommierten Filmpreisen (u.a. Academy Award und Golden Globe für beste Nebendarstellerin) bedacht.
Ansgar Skoda - 25. Februar 2019 (2) ID 11246
Link zum Buch:
https://www.dtv.de/buch/james-baldwin-beale-street-blues-8662/
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