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Buchkritik

Lesen im Urlaub >>> Julian Barnes, Vom Ende einer Geschichte







Es soll Leute geben, die nicht glauben wollen, dass es möglich ist, mit einer Geschichte das Leben zu verändern. Man berücksichtigt die unmittelbare Wirkung; kalkuliert die erbärmlichen Maschen der menschlichen Reizbarkeit, oder nennen wir es Sensibilität; man berücksichtigt die Halbwertzeit der Gefühle und kommt am Ende zu dem Ergebnis, dass nachgerade alles, jede Wirkung und jede Erkenntnis endlich oder vergänglich ist. Der Dichter Rainer Maria Rilke war anderer Ansicht. Er wusste um die obskuren Serpentinen der menschlichen Empfänglichkeit und schrieb am Ende eines seiner bekannteren Poems: Du musst dein Leben ändern. Eine Erkenntnis, die ihm nicht nebenher kam, sondern beim Betrachten des archaischen Torsos eines griechischen Gottes: Apoll.

Der Gott der Schönheit. Der schönen Liebe. Also der Kunst. Auch Julian Barnes kennt dieses wissende Gefühl und weiß: Es ist nicht nur ein Gefühl wie die Empfindung des Kindes, das sich an einer Herdplatte verbrennt. Er kennt die Rationalität unserer Emotionen. Barnes schreibt seine Geschichte vom Ende einer Geschichte, weil er weiß, dass es diese speziellen Gefühle gibt, die denken können. Die unser Leben verändern. Sie sind anwesend wie ein fremder Gott im Raum anwesend ist, man ahnt seine stille Präsenz. Es ist etwas Unheimliches.

Das Unheimliche an Barnes' Roman ist seine unbedingte Wahrhaftigkeit, die offen zu Tage liegt. So offen und klar, dass man sie nicht mehr erzählen muss. Und doch entschließt sich Barnes dazu, und das Ergebnis ist so bemerkenswert wie es erschütternd ist. Einen Roman zu lesen, den man schon während des Lebens als ein Schriftstück erkennt, das die eigene Existenz so berührt, dass diese Berührung nur zu einer Erkenntnis werden kann - das kann sich doch sehen lassen im Angesicht dieses unfassbar banalen Tsunami der zeitgenössischen Druckliteratur.

Kurz gefasst, die Story: Adrian Finn kommt in die Klasse von Tony Webster, die beiden werden dicke Freunde. Womit befassen sich Jungs? Mit Sex und, zugegeben ein wenig nachromantisch, mit Büchern. Adrian ist dabei stets der scharfsinnigere und Tony weiß das. Eines Tages endet die Freundschaft. Der Grund: Eine Frau. In der Folge: Der Selbstmord des Freundes. Als Tony viele Jahre später, er ist bereits ein alter Mann, einen Brief von einer Anwaltskanzlei erhält, worin ihm eine Erbschaft in Form des Tagebuches seines verstorbenen Freundes angekündigt wird, beginnt das späte Ende jener sentimentalen Geschichte, die in der Jugend begann. Und mit diesem Ende beginnt Tony etwas zu verstehen, das Barnes so formuliert:

"Die Frage der Akkumulation, hatte Adrian geschrieben. Man setzt auf ein Pferd, es gewinnt, der Gewinn wird auf das nächste Pferd im nächsten Rennen übertragen und so immer weiter. Die Gewinne akkumulieren sich. Aber was ist mit den Verlusten? Nicht auf der Rennbahn - da verlierst du nur deinen ursprünglichen Einsatz. Aber im Leben? Vielleicht gelten da andere Regeln. Du setzt auf eine Beziehung, sie scheitert; du fängst eine neue Beziehung an, und die scheitert auch; und vielleicht verlierst du dabei nicht zwei einfache Minusbeträge, sondern ein Vielfaches deines Einsatzes. So fühlt es sich jedenfalls an. Das Leben besteht nicht nur aus Addition und Subtraktion. Es gibt auch die Akkumulation, die Multiplikation des Verlustes, des Scheiterns."


Man kann in diesen knapp zweihundert Seiten vieles lernen. So vieles, dass man überhaupt nicht beginnen mag. Aber Rezensenten-Los ist es nun mal, die Dinge zum Sprechen zu bringen, die der Autor sorgfältig hegt und pflegt im Treibhaus seiner Sprache und Fantasie. Man mag also verzeihen, wenn gesagt wird, Barnes sei ein Meister der Sprache, auch der schönen, auch der sparsamen, auch der fließenden, auch der denkenden. Dass er vor allem ein beachtliches Dokument dessen verfasst habe, was oben die Rationalität der Emotionen genannt wurde, hier in Form des geschichtenerfindenden Gedächtnisses. Wenn Barnes die einzige, die entscheidende Frage unserer Existenz schlicht beantwortet, so macht er dies, als habe er nie etwas anderes getan als jene Fragen zu beantworten, auf die alle anderen einfach keine Antwort finden. Er tut dies einfach so, unbescholten und unbeeindruckt von der sogenannten Nachmoderne und ihrer Idee vom Tod der herkömmlichen Kunst.

Bei Julian Barnes gibt es einen Erzähler: Hier gibt es einen Autor, hier liest man eine Geschichte und darf sie auch noch verstehen. Wie er das schafft? Man kann nur ahnen, was diese sehr seltene Erzählerspezies beherrscht: Die Fähigkeit, Dinge so zu sagen, wie sie wirklich sind. Am besten, man überlässt Barnes das letzte Wort:

"Entwickelt sich ein Charakter im Laufe der Zeit? Im Roman natürlich schon. Sonst würde die Geschichte ja nicht viel hergeben. Aber im richtigen Leben? Manchmal frage ich mich das. Unsere Einstellungen und Ansichten ändern sich, wir entwickeln neue Gewohnheiten und Marotten; aber das ist etwas anderes, eher eine Art Dekoration. Vielleicht ist es mit dem Charakter ähnlich wie mit der Intelligenz, nur dass der Charakter seinen Höhepunkt etwas später erreicht: sagen wir, zwischen zwanzig und dreißig. Und danach müssen wir uns einfach mit dem begnügen, was wir haben. Wir sind auf uns selbst gesellt. Wenn das stimmt, würde es einige Lebensgeschichten erklären. Und auch - falls das Wort nicht zu hochgestochen ist - unsere Tragödie."



Bewertung:    



Jo Balle - 23. Juni 2013
ID 6883
Julian Barnes, Vom Ende einer Geschichte
ISBN: 978-3-462-04433-1
Erscheinungsdatum: 01. Dezember 2011
192 Seiten, gebunden
Titel der Originalausgabe: The Sense of an Ending
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger
Euro (D) 18,99 | sFr 26,80 | Euro (A) 19,60
Kiepenheuer & Witsch



Siehe auch:
http://www.kiwi-verlag.de/das-programm/einzeltitel/?isbn=978-3-462-04433-1


Post an Dr. Johannes Balle



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