Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 2

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Essay

Flucht und Migration

Über zwei hierzulande preisgekrönte Einwanderer-Romane von Pajtim Statovci und Dinçer Güçyeter

„Jene Jahre waren die schnellsten meines Lebens. Ich vergaß sie auf der Stelle, konnte nicht mithalten. Wir sahen in den Nachrichten Bilder von brennenden Gebäuden und von Toten, darunter auch Frauen und Kinder. Niemand sollte solche Bilder sehen, auf denen Leichen keine Leichen waren, denn es fehlten ihnen Teile und die Haut war nicht hautfarben, sondern hell- und dunkelrot, und die Straßen waren keine Straßen, sondern Schützengräben. Wie konnte es überhaupt möglich sein, dass man in eine solche Lage geriet? Massenmord, Blutbäder, Explosionen, Wahlbetrug, Todesopfer, Brände, solche Nachrichten zu hören, wurde unser tägliches Leben.“
(Pajtim Statovci, Meine Katze Jugoslawien, S. 243)



In Pajtim Statovcis Meine Katze Jugoslawien (2024) verzweifelt Emine, eine Mutter von fünf Kindern, um 1999 am Krieg in ihrer Heimat Kosovo. Später flieht sie mit ihrer Familie aus Jugoslawien nach Finnland.

Ob nun in der Ukraine, in Myanmar, in Mexiko, in Äthiopien, im Sudan oder im Gazastreifen, kriegerische Konflikte führen auch in der unmittelbaren Gegenwart zu Massenfluchtbewegungen.

Immigrations- und Flüchtlingsbewegungen nehmen bei der anstehenden Bundestagswahl in Parteiprogrammen eine zentrale Rolle ein. Migration und Vertreibung sind so alt wie die Menschheit. Unsere Fähigkeit zu Wandern prägt die Erdbesiedelung. Doch die Welt erlebt derzeit ein nie da gewesenes Aufkommen von Geflüchteten, aufgrund von Konflikten, Gewalt, Verfolgung oder auch dem Klimawandel.


„Die Luft wurde dick und feucht, sie war voller Brandgeruch, den mal die Verzweifelten und mal die Verrückten atmeten. Ich hatte Angst, mitten in der Nacht davon aufzuwachen, dass unser Haus in Flammen stand. Oder dass ich oder meine Kinder entführt und irgendwohin gebracht wurden und wir uns nie mehr wiedersahen. Wie war es überhaupt möglich, in einem solchen Ausmaß Hass zu empfinden, dass man das Gefühl dafür verlor, was richtig und falsch war?“ (Meine Katze Jugoslawien, S. 179f.)


In Statovcis Roman werden existenzielle Ängste während des Kosovo-Krieges beschrieben. Bereits die Grausamkeit der Benachteiligung gegenüber den Serben führt dazu, dass viele Albaner Jugoslawien in den 1990er gen Europa verlassen.

In Deutschland ist die Einwanderungsquote laut Statistischem Bundesamt auf Rekordniveau und aktuell höher als in den USA, einem klassischen Einwanderungsland. Behörden sind mitunter überfordert, wenn Flüchtlinge in großer Zahl unvermittelt eintreffen. Laut polizeilicher Kriminalstatistik liegt die Kriminalitätsquote bei Migranten derzeit bei über 40 Prozent, bei der Gesamtbevölkerung nur bei 15 Prozent. Im Wahlkampf legen demokratische Parteien Programme für eine besser funktionierende Integration vor. Der Umgang mit Migration gerät jedoch auch dann unter Druck, wenn nationalistische Kandidaten, die sich im Wahlkampf entschieden gegen Zuwanderung aussprechen, Stimmanteile hinzugewinnen.


„Besonders in den letzten Jahren sieht man wieder Wahlplakate, auf denen Einwanderern der Rückweg gezeigt wird. Hier am Ingenhovenpark habe ich ein Plakat gesehen, auf dem eine Frau mit Kopftuch abgebildet ist, in ihrer Hand einen Koffer, ihr wünscht man eine schöne Heimreise. Das hab ich gesehen, Dinçer, das hat mir dieses Land zu sehen gegeben. Ich stand vor diesem Plakat, ich stand in Flammen.“ (Dinçer Güçyeter, Unser Deutschlandmärchen, S. 127)


Dinçer Güçyeter ist Sohn türkischer Einwanderer. Er beleuchtet in Unser Deutschlandmärchen (2022), autobiographisch grundiert, vielstimmig das Schicksal türkischer Griechen und erzählt von Heimatverlust, Brüchen und Rassismus-Erfahrungen.

Soziale und wirtschaftliche Spaltungen können sich in Ausgrenzung, Rassismus und Marginalisierung manifestieren. Flüchtlinge und andere Vertriebene sind häufig Ziel von Anschuldigungen, wenn es zu politischen Turbulenzen, wirtschaftlichen Beeinträchtigungen oder Störungen der öffentlichen Sicherheit kommt. Auch Zugewanderte ohne Fluchthintergrund sind mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, jedoch sind geflüchtete Menschen besonders verwundbar.

Im Literaturbetrieb ist es ausgesprochen verdienstvoll, wenn literarische Werke geehrt werden, die authentisch von Migration, Fluchterfahrungen oder Entfremdung erzählen. Hier werden zwei preisgekrönte, ungewöhnliche Romane näher vorgestellt, die sich diesen Themen auf sehr poetische Weise widmen.

Pajtim Statovci und Übersetzer Stefan Moster wurden letztes Jahr für den Roman Meine Katze Jugoslawien mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt geehrt. Bereits für Grenzgänge (2021) stand der finnische Romancier auf der Shortlist des US National Book Award für Übersetzungen.

Dinçer Güçyeter erhielt für seinen Roman Unser Deutschlandmärchen vor zwei Jahren den Preis der Leipziger Buchmesse.

Mit ihrer Prosa und auch lyrischen Werken ermächtigen sich Statovci und Güçyeter dazu, recht unkonventionell über Fremdheitserfahrungen zu erzählen. So antwortet der Ich-Erzähler Bekim in Meine Katze Jugoslawien gewohnheitsmäßig nicht ehrlich, wenn er nach seinem Namen gefragt wird:


„Wenn man mich nach meinem Namen fragt, antworte ich manchmal wahrheitsgemäß, aber ebenso oft sage ich Michael oder Jon, Albert oder Henry, denn so vermeide ich die folgende Frage, die lautet, woher ich komme.
Ich frage mich immer, warum die Leute das wissen wollen. Weil sie ehrlich an meiner Heimat interessiert sind? Oder um aufgrund meiner Herkunft Schlussfolgerungen über mich ziehen zu können? Es ist etwas anderes, den Leuten zu sagen, man sei Schwede, Deutscher oder Engländer, als zu sagen, man sei Türke oder Iraner. Das Heimatland eines Menschen ist nur in seltenen Fällen einerlei.“
(S. 212)



Beide Autoren verweben Biographisches in ihre Romane. Der finnisch-kosovarische Schriftsteller Pajtim Statovci, geboren 1990, zog mit zwei Jahren mit den albanischen Eltern aus dem Kosovo nach Finnland. Dinçer Güçyeter wurde 1979 im niederrheinischen Nettetal geboren und ist Sohn türkischer Gastarbeiter. Seine Großeltern kamen aus der anatolischen Provinz.

Beide Romane spielen mit unterschiedlichen Perspektiven, parallelen Erzählsträngen und binden literarische Kniffe und Traumartiges ein. Meine Katze Jugoslawien und Unser Deutschlandmärchen thematisieren Unsicherheiten in der Kindheit und den Zusammenhalt in großen Familien. Die beiden preisgekrönten Werke sind zeitweise aus der Perspektive der Mütter der Haupt-Erzählinstanz geschildert. In starken Bildern wird eine Aufopferungsbereitschaft der tüchtigen Frauen herausgestellt. Aus der Perspektive der Mütter werden auch Zwangsverheiratungen und die Rolle der Frau in der jeweiligen, muslimisch geprägten Heimat problematisiert. So erinnert sich Emine an ihre Schmerzensschreie in der Hochzeitsnacht mit Bajram:


„Ich richtete mich auf, blieb sitzen und dachte an die große Enttäuschung, die mir gerade widerfahren war, an die wenigen Minuten mit unangenehmen Gerüchen, sonderbaren Stellungen und unerwarteter, unerfreulicher Überraschungen. Ich war ruhig und in Panik zugleich. Ich hatte nichts mehr zu erwarten, so würde es immer sein, dachte ich.“ (Meine Katze Jugoslawien, S. 160)





*

Ein Erbe über Generationen - Von Katze und Schlange geschultert


Pajtim Statovci erzählt in seinem Buch aus der Perspektive Emines von dem Kennenlernen, der Ehe und der Familiengründung Emines mit Bajram und einem entbehrungsreichen Leben. Das Gros des Romans wird jedoch aus der Perspektive von Emines Sohn Bekim viele Jahre später erzählt. Der Ich-Erzähler Bekim, ein queerer Dozent, ist mehr finnisch als kosovarisch. Bekim ist traumatisiert von der Gewalt des Vaters und genervt von Diskriminierung in Finnland. Er schafft sich zuhause eine Königsboa an, um daheim nicht mehr so einsam zu sein. Er flüchtet sich in One-Night-Stands und lernt in einer Schwulenbar eine Katze kennen, der er von seiner Vergangenheit erzählt:


„Die Katze spürte, dass ich normalerweise nicht über meine Vergangenheit sprach, denn jetzt hörte sie aufmerksamer zu, kniff die Augen zusammen und führte die Finger wieder ans Kinn, um mich durch die Musik hindurch besser zu hören.“
(Meine Katze Jugoslawien, S. 78)



Die Katze ist im Roman eine recht schillernde, hitzige und schwer einzuordnende Gestalt, da sie spricht und denkt. Mal hat sie Finger und mal Pfoten:


„Dann brach sie in schallendes Lachen aus. Sie schlug mit den Pfoten auf den Tisch, schüttelte den Kopf und wackelte mit den Hinterbeinen, als hätte sie einen Anfall bekommen. Kabumm!“ (S. 86)


Sie erinnert an die Grinsekatze aus Lewis Carrolls Alice im Wunderland, wenn sie applaudieren möchte (S. 87). Gleichzeitig trägt sie polierte Schuhe, Hemd, eine Wolljacke und verteilt Visitenkarten. Der Erzähler bringt sie zu sich nach Hause und ermöglicht ihr kostenfreie Logis. Bald ordnet er sich der Katze ähnlich bedingungslos unter, wie sich seine Mutter seinem Vater unterordnete:


„Ich hatte eigenständig ihre Kleider in die Waschmaschine gesteckt und ihr Hemd gebügelt, ihre Schuhe poliert und die Jacke aus Wolle ausgelüftet – so sehr mochte ich sie bereits.“ (Meine Katze Jugoslawien, S. 106f.)


Doch auch die Königsboa lebt in Bekims Wohnung und bald kommt es zu einem existenziellen Kampf. Auch aufgerüttelt durch die eifersüchtige Kollision zwischen Katze und Schlange stellt sich Bekim schließlich seiner Vergangenheit. Er erinnert sich an den Wunsch seines Vaters, dass er die ihm vom Vater anvertraute lebensbedrohliche Erkrankung an Lungenkrebs vor den anderen Angehörigen verheimlichen solle:


„Aber das ist unser Geheimnis, das darfst du niemanden verraten, sagte er dann. Ich musste es jemanden mitteilen, weil ich es sonst nicht aushalte. Ich will nicht alleine sterben. Aber du erzählst niemanden davon, ist das klar? 'Du bist der Stärkste von euch, das weiß ich, ich sehe es dir an. Und ich brauche dich jetzt«, sagte er und schaltete das Licht an. 'Hast du gehört?', fuhr er fort. 'Mehr als je zuvor.'“ (S. 63)


Um familiäre Belastungen, schillernde Figuren und Abhängigkeitsverhältnisse geht es auch in Unser Deutschlandmärchen von Dinçer Güçyeter, einer erzählten Familiengeschichte über mehrere Generationen von Frauen und einen in Almanya geborenen Sohn. In Monologen, Bildern, Dialogen und Gebeten spürt Güçyeter seiner Vergangenheit nach.

Güçyeter würdigt in seinem autobiographisch gefärbten Romandebüt seine Mutter Fatma in einer zärtlichen Hommage. Er setzt seiner fleißigen Mutter, die sich stets einschränken musste, jedoch nie unterkriegen ließ, ein Denkmal. Er zeigt sie jedoch auch in larmoyanter Opferhaltung und beim Singen von Klageliedern. Hier lebt sie ganz in der Familientradition. Die Großmutter gibt die erfahrene Unterdrückung an ihre Tochter weiter; frei nach der Haltung, warum sollte sie es besser haben als ich?

Tatsächlich ist Fatma vom Schicksal gebeutelt. Sie zieht sich bei der Fabrikarbeit durch ein fallendes Eisentor in der Halle Knochenbrüche zu, erhält jedoch keine Entschädigung oder Rente:


„Die Fabrik gab meine Verletzung nicht als Arbeitsunfall an, die Gewerkschaft unternahm auch nichts. Ich traute mich nicht, beim Amtsgericht anzuklopfen. Ein Dolmetscher, ein Rechtsanwalt kosteten viel Geld, wer sollte das alles bezahlen?
Es ist, wie es ist, du bist die Maschine, wenn du kaputt bist, bist du eben kaputt. Nichts zu machen.“
(S. 85)



Fatma engagiert sich bald in anderen Bereichen. Sie unterstützt sogenannte gefallene Mädchen, die von Vätern verstoßen wurden. Sie setzt sie als Kellnerinnen in der familiengeführten Kneipe ihres Mannes Yilmaz ein.

Güçyeter übt hier Kritik an der patriarchalen Macho-Kultur in seinem Herkunftsland Türkei.

Der Roman enthält witzige Anekdoten, etwa von einer Frau, die mit Kind vor lüsternen Männern flieht.

Unser Deutschlandmärchen ist ein vielschichtiges Werk, das sein Thema vielseitig beleuchtet und dabei unterschiedliche Textsorten integriert.

* *

Die Autoren Statovci und Güçyeter stehen in ihrer Heimat auch weiterhin mit ihrem literarischen Werk im Fokus. Statovci erhielt 2024 zum zweiten Mal den Finlandia Prize (nach 2019 für Bolla), diesmal für Lehmä Synnyttää Yöllää (noch nicht ins Deutsche übersetzt). Güçyeter erhielt 2024 den Else-Lasker-Schüler-Lyrikpreis und ein Amt als Stadtschreiber von Bergen-Enkheim. Das Prosawerk von Statovci und Güçyeter steht für vielstimmige Einwanderer-Schicksale, die auch unser Land bereichern.
Ansgar Skoda - 11. Januar 2025
ID 15099
Penguin-Link zu Meine Katze Jugoslawien

Mikrotext-Link zu Unser Deutschlandmärchen


Post an Ansgar Skoda

skoda-webservice.de

Bücher



Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!



Vielen Dank.



  Anzeige:




LITERATUR Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

AUTORENLESUNGEN

BUCHKRITIKEN

DEBATTEN

ETYMOLOGISCHES
von Professor Gutknecht

INTERVIEWS

KURZGESCHICHTEN-
WETTBEWERB
[Archiv]

LESEN IM URLAUB

PORTRÄTS
Autoren, Bibliotheken, Verlage

UNSERE NEUE GESCHICHTE


Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal





Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2025 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)