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In memoriam

Lieber Martin Walser



Martin Walser (1927-2023) | Bildquelle: Wikipedia


"Ich verehre und liebe Sie zu sehr, als dass ich Ihnen jemals eine Meinung, auch wenn ich sie nicht nachvollziehen oder nicht mit ihr übereinstimmen konnte, übelgenommen hätte. Was ich selbst in jener Zeit, da sich unsere Ansichten stark auseinander­entwickelten, an Ihnen schätzte, war Ihr Nonkonformismus. Sie sympathisierten mit der DKP, als das Mut erforderte; Sie plädier­ten für ein wiedervereinigtes Deutschland, als das aus der Mode war. Ich kann verstehen, dass Ihnen der verordnete Konsens einer Bezugsgruppe, also auch der Linken, widerwärtig ist, dass er Sie zum Widerspruch provoziert.

Nun aber sehe ich Sie zum ersten Mal eingebettet im von Tag zu Tag zwingender werdenden Konsens der Mehrheit - und das macht mir Kummer. Selbst Ihre Widersacher hier im
Freitag konkurrieren mit Ihnen darum, wer der 'bessere Nationalist' sei (kaum anders, als man früher der 'bessere Marxist', der 'bessere Antifaschist' oder, davor, der 'bessere Christ' sein wollte).

Wenn Sie seinerzeit dafür eintraten, dass auch ein Leipziger in Stuttgart ins Theater gehen kann, dann sollten Sie das heute wieder tun. Aber nicht nur den Kalikumpels aus Bischofferode fehlt das Geld, um in Stuttgart ins Theater zu gehen. Die deut­sche Einheit, die Sie einst gegen den Konsens von ganz links bis weit zur Mitte vertraten, verlangt heute, gegen den nun herr­schenden Konsens, die Wiederentdeckung der sozialen Frage. Nun, da Ernst Jünger offenbar in sämtlichen Medien Bertolt Brecht als bedeutendster deutscher Schriftsteller unseres Jahrhunderts er­setzt hat, nun, da wirklich kaum mehr jemand zu finden ist, der nicht für eine Aufwertung des nationalen Denkens plädieren würde, erheischt die ehrenwerte Position des Oppositionellen, die Sie mit großer Konsequenz einnahmen und die Ihnen auch viele meiner Freunde zu Feinden machte, eine Rückkehr nach Philippsburg. Die Gesellschaft, die Sie dort satirisch zeichneten wie kaum einer in der deutschen Nachkriegsliteratur, besteht ja weiterhin. Es geht ihr besser denn je, sie denkt inzwischen mit Sicherheit national, und dass die Deutschen aus Leipzig oder Bischofferode nicht in Stuttgart ins Theater gehen können, hängt heute mit keiner Mauer und keinem Stacheldraht, sondern weitgehend mit den Privilegien und der Politik der Philippsburger zusammen.

Ich möchte Sie ungern im Konsens mit dieser Gesellschaft sehen. Dazu verehre und liebe ich Sie zu sehr.

In alter Treue (erinnern Sie sich noch an die morgendliche Lesung im Stuttgarter Waldheim Sillenbuch, nach einer durchzechten Nacht?)

Ihr Thomas Rothschild"


*

Den oben stehenden Offenen Brief hatte ich im Februar 2001 für die Wochenzeitung der Freitag geschrieben. Die zensurfreudige Redaktion wollte ihn nicht veröffentlichen.
Thomas Rothschild - 29. Juli 2023
ID 14310

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