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Obdach



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„Er bewundert diese Rocker, die es schaffen, direkt bei der Senilität zu landen, ohne über das Feld Erwachsensein zu gehen. Man merkt, dass sich Vernon, wie viele andere, im Leben nie die geringste Frage gestellt hat, wegen nichts. Dass er von Gesprächsgruppen, Sitzungen beim Psychologen, der Erschütterung der Vaterschaft verschont geblieben ist, der Glückspilz. Er ist derselbe geblieben wie mit zwanzig, als wäre er in Formalin gealtert.“ (Virginie Despentes, Das Leben des Vernon Subutex, S. 296)


*


Vielen Protagonisten des Gesellschaftsromans Das Leben des Vernon Subutex der französischen Schriftstellerin Virginie Despentes fehlt die Reife. So wird im Plot derb gepöbelt, und es werden unreflektiert harte Drogen konsumiert. Das Gros der Aufmerksamkeit dreht sich um Sex und Gewalt. Dabei sind die Protagonisten im Umgang miteinander wenig zimperlich, und oft geht es direkt zur Sache.

Der Romanheld Vernon Subutex führte viele Jahre einen Plattenladen in Paris, bevor er langzeitarbeitslos und zunehmend lethargisch wurde. Drei Monatsmieten im Rückstand, verliert er seine Wohnung und wird vom Vermieter auf die Straße gesetzt. Auf den Straßen in Paris kontaktiert er bald Freunde und Bekannte über Facebook. Bei der mitunter abenteuerlichen Suche nach Obdach landet er in Behausungen, von denen er nie zu träumen gewagt hätte. Dabei kann der fast Fünfzigjährige nicht nur mit seiner Not, sondern auch mit seinem äußeren Erscheinungsbild bei ausgewählten Obdachgeberinnen punkten. Seine Bekanntschaft Sylvie, mit der er kurzzeitig auch das Bett teilt, denkt bei ihm tagträumend gar an Quickies im Fahrstuhl. Sie gerät ins Schwärmen vom neuen Weggefährten und möchte ihren Freundinnen gegenüber gar eine Theorie von der biologischen Uhr loslassen:


„Irgendwann kommt der Moment, wo der Körper begreift, dass er nur noch ein paar glanzvolle Jahre hat, dann macht er sich bereit für das letzte große Feuerwerk – sie hat Orgasmen wie nie zuvor. Zumindest wird sie das behaupten.“ (S. 138)


Da seine Manneskraft bei Sylvie zu sehr unter Druck zu geraten droht, sucht Vernon hier alsbald das Weite. Er versucht sich als hauseigener DJ bei einem schmierigen Partyveranstalter und erntet hier zunächst wohltuenden Respekt:


„Sieh dir an, was du mit diesen läufigen Hündinnen anstellst, bald läuft hier die Mega-Sexorgie. Finally passt ihm sogar seine Visage. Vernon ist nicht schüchtern, er ist geheimnisvoll. Auf den ersten Blick hatte er ihn für einen Schüchternen gehalten. Die kann er nicht ausstehen. Motherfuckers sind ausgeflippt, zumindest haben sie ein großes Maul. Keine Schisser.“ (S. 225)


Doch die Wohlgesonnenheit des Partyveranstalters ist nicht von Dauer, und bald schlägt sich Vernon mit einer obdachlosen Bekannten, mehr schlecht als recht, durch.

Obwohl die Perspektiven in Virginie Despentes Roman stetig wechseln und auch Protagonisten der sogenannten High Society mitmischen, bleibt die Ausdrucksweise meist vulgär und der Blickwinkel zynisch-düster. Eine Stärke des Romans ist, dass windige Charaktere - wie Vernon – nicht nur selbst zu Wort kommen, sondern prägnant aus unterschiedlichen Blickwinkeln porträtiert werden. Vernon taucht mehr und mehr in die Halbwelt von Paris ein. Hier begegnet er mitunter erstaunlichen Persönlichkeiten, deren oft brutale Sichtweisen auf die Welt in Despentes Roman zu faszinieren vermögen. Da gibt es neben dem transsexuellen Ex-Pornostar auch eine gewiefte Freiberuflerin, die mit Shitstorms ihren Lebensunterhalt verdient:


„Jemanden im Netz zu lynchen ist einfacher, als einen positiven Hype auszulösen – sie behauptet zwar, dass sie beides kann, aber die Zeichen stehen auf Brutalität. Nur wer zuschlägt, findet Gehör – und man braucht immer ein männliches Pseudonym, um jemanden zu dissen. Der einzige Klang, der die Schwachköpfe in den Hinterhöfen des Webs beruhigt, ist der des Knüppels, der die Knochen eines Mithäftlings bricht.“ (S. 118)


Überhaupt spielt das Web im Roman eine große Rolle. So tauschen sich Vernons Bekannte auf der Suche nach seiner Person bald über das Hashtag #VernonSubutex auf Social Media aus. Aufgelockert wird der Roman durch eingeworfene Songtitel und wiederholte kursive Hervorhebung einzelner Worte und Kraftausdrücke. Leider ermüden die derbe Ausdrucksweise und die oft antriebslos-pessimistischen Lebenseinstellungen der Figuren etwas. Die slangartige Sprache geht in der Übersetzung aus dem Französischen von Claudia Steinitz zuweilen mit kleinen Tippfehlern einher, so u.a. auf:


S. 131 „Abe [sic] sie“, S. 182 „ein Mädchen[sic]s mit“, S. 381 „drei betrunkene[sic]n Teenies schwanken“, S. 392 „die verschiedenste[sic]n Leuten“.


Im Großen und Ganzen entwirft Despentes, die 2000 mit dem Skandalfilm Baise moi – Fick mich! auf sich aufmerksam machte, ein finsteres Panoptikum mitmenschlicher Beziehungen. Ihr lustvoll-düsteres Gesellschaftsbild um den wohnungslosen Titelhelden erinnert auch aufgrund der unzähligen Perspektivwechsel an die Romane Sibylle Bergs. Noch ist kein Ende in Sicht für die zynische Betrachtungsweise der Figuren im Leben von Vernon Subutex – denn enthusiastisch legt die Autorin ihr Erfolgswerk auf eine Trilogie mit zwei weiteren Fortsetzungen an.
Ansgar Skoda - 6. November 2017
ID 10350
Link zum Buch: https://www.kiwi-verlag.de/buch/das-leben-des-vernon-subutex/978-3-462-04882-7/


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