Es gibt
noch viel zu
bewerkstelligen
|
|
Bewertung:
Die Satellitenbilder bei den Wettervorhersagen hatten schon seit Tagen nichts Gutes verheißen, aber mit einer derart übermächtigen Flut rechneten in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 die wenigsten. Und dann kam sie. Wer noch sein Auto auf einer Anhöhe parken wollte, dem war wegen des Wassers womöglich der Weg zurück in sein Haus versperrt; einige, die noch schnell etwas im Keller regeln wollten, wurden dort eingeschlossen. Die Flutwelle stieg so rapide und entfaltete eine derartige Gewalt, dass die Betroffenen zusehen konnten, wie das Wasser in kürzester Zeit in Keller, Parterre, und, wer Pech hatte, in noch höhere Stockwerke schoss. - Offiziell sind alleine in Deutschland 184 Todesopfer zu beklagen, zwei Menschen werden noch vermisst. Am stärksten waren Rheinlandpfalz und Nordrhein-Westfalen betroffen, aber auch andere Bundesländer, und weitere Staaten, insbesondere Belgien und die Niederlande.
Dann folgten die immer noch anhaltenden Wellen der Hilfsbereitschaft. Zuerst kamen die Besatzungen von 36 Hubschraubern, die es schafften, 330 eingeschlossene Personen über den Luftweg zu evakuieren. Fast zeitgleich rollten die Landwirte aus der Umgegend an, die mit ihren Maschinen anfingen, die Straßen freizuräumen: Die waren meterhoch mit zerstörten Gebäude- und Brückenresten, demolierten Kraftfahrzeugen, Baumstämmen, Hausrat, Weinfässern und allem, was die Wassermassen mitgerissen hatten, vollgestopft und unzugänglich. Es gab keinen Strom, kein Wasser, kein Internet, keine Toiletten und doch kamen die HelferInnen in Scharen. Sie waren sich für nichts zu schade und bildeten Eimerketten, um z. B. Unmengen von Schlamm aus den Häusern zu entfernen. Der war aber teilweise kontaminiert mit Heizöl, Kraftstoffen aus Autos, dem Inhalt von beschädigten Kläranlagen sowie deren chemische Substanzen.
Den ErsthelferInnen folgten viele weitere aus allen Landesteilen und sogar den Nachbarländern, von denen alle auf ihre Art einen Beitrag leisteten. Die einen organisierten Lebensmittel, Decken, Kleidung, Spielzeug, andere bekochten die HelferInnen und Betroffenen, besorgten Notstrom-Aggregate, Wassertanks, Bautrockner, Dixie-Klos, eigentlich alles. Denn es gab so gut wie nichts mehr. Die örtlichen Behörden waren meist selbst überflutet und von der Außenwelt abgeschnitten, die übergeordneten Behörden verweilten teilweise über Monate in einer Art Schockstarre. Auf ein solches Ausmaß war niemand vorbereitet. Im Landkreis Ahrweiler befanden sich 62 zerstörte und 13 beschädigte Brücken, allein in Rheinlandpfalz gab es rund 17.000 Betroffene. Auch viele Streckenabschnitte von Straßen und Zufahrtswegen existierten einfach nicht mehr. Wenn die freiwilligen HelferInnen, vor allem aber die aus der Landwirtschaft mit ihren Baggern sowie andere aus Handwerks- und Baubetrieben mit ihrem schweren Gerät nicht gekommen wären... Es ist nicht abzuschätzen, wie es den Menschen heute dort erginge.
|
Zerstörte Bahngleise und Brücke im Ahrtal | Foto (C) Annett Baumgarnter
|
*
Eine der Helferinnen war Annett Baumgartner aus dem Westerwald. Sie reihte sich anfangs in die Eimerketten im Ahrtal ein, war „Schlammschlepperin“. Der ganze Müll, der Dreck, der übel riechende Unrat musste weg, weg, weg. - Einen Moment mal. Stopp. Innehalten. Hinschauen.
Für die Grafikdesignerin und Fotografin Baumgartner war klar, dass das, was da an unzähligen Tonnen in wahren Karawanen in die Mülldeponien abtransportiert wurde, das materielle Leben der Menschen ausgemacht hatte: ihre Wohnorte, ihre Einrichtungsgegenstände, Fahrzeuge, ihre Dokumente, Verträge, Fotoalben, bei einigen alles.
Allmählich begann sich die Presse sehr für das Ahrtal zu interessieren, weil insbesondere der Lohnunternehmer und Landwirt Markus Wipperfürth über Facebook täglich aus der Region berichtet, Menschen befragt und konkrete Hilfsanforderungen veröffentlicht. Diese Art der Berichterstattung wird mittlerweile von etlichen Engagierten abgedeckt.
Baumgartner dagegen ging mit fotografischem Blick im Ahrtal den Motiven nach, die stumm ihre Geschichte erzählen, und veröffentlichte die Fotos in dem Bildband Flut 2021 - Stille Zeitzeugen. Das Foto von den Schlammeimern mit einem verschmutzten Krug davor ist auf dem Buchcover zu sehen. Die teils ineinander gestapelten leeren Eimer zeugen davon, dass hier mehr oder weniger systematisch gearbeitet wird, sie sind bereit für ihren nächsten Einsatz. Der standhafte Krug ist trotz des Wassers nicht gebrochen und beweist die Achtsamkeit der HelferInnen, die Gegenstände beiseite legen, die ins Fundbüro kommen.
Die ersten Bilder im Buch sind aus den Medien bekannt. Claudia Bergmann aus Walporzheim hatte die meterhoch mit Unrat übersäte Hauptstraße von ihrem Fenster aus fotografiert. Baumgartner hat fast nur Stillleben abgelichtet. Von Menschen sind nur verschlammte Stiefel und verschmutzte Arbeitshandschuhe zu sehen. Das einzige weitere Lebewesen ist ein verstört schauender Flusskrebs, ein einsamer Repräsentant für die in Mitleidenschaft gezogene Tierwelt. Zerstörte Brücken, Straßen und Gebäude sprechen für sich. Historische und wunderschöne alte Bauten wie ein Gasthof und ein Hotel sind von der Fassade her noch erhalten und vermitteln einen Eindruck davon, dass insgesamt nicht „nur“ Bausubstanz verloren ging, sondern auch ein Stück Geschichte, Kultur, Heimat und Lebensart. Dazu gehören auch die WinzerInnen und die Weinberge, die das Ahrtal zum großen Teil ausmachen. Eine Reihe von verschlammten Weinflaschen sieht aus wie Flüchtlingskinder, die gerade aus einem Kriegsgebiet entkommen konnten.
Ein im Wasser schwimmender Fußball, ein kaputter Tennisschläger, ein verwaister Sessel auf Bahngleisen müssen einmal BesitzerInnen gehabt haben. Gerade anhand von demolierten Bahngleisen illustriert Baumgartner die schiere Wucht der Wassermassen. (Laut Angaben der Deutschen Bahn sind bundesweit 180 Bahnübergänge, knapp 40 Stellwerke, über 1.000 Oberleitungs- und Signalmasten und 600 Kilometer Gleise zerstört).
Baumgartners Bildband verzichtet darauf, Menschen im Elend zu zeigen. Es sind trotz des harschen Inhalts ästhetische Bilder, die von der Vernichtung, aber auch vom Überlebenswillen und überwältigender Hilfsbereitschaft erzählen. Und auch der Verstorbenen wird gedacht in Form von Kerzenspenden aus Österreich. Die Anteilnahme ging über Landesgrenzen hinaus und die Katastrophe hat das Beste aus den meisten Menschen herausgelockt. Die Helfer-Teams, die AnwohnerInnen und alle, die unermüdlich in den Flutgebieten ackern, zeigen eine Solidarität, Selbstlosigkeit und Empathiefähigkeit, die viele verloren wähnten, die ihnen nun aber den Glauben an die Menschheit zurückgeben.
|
Vor der Flut sind da noch Züge gefahren und jemand hat in dem Sessel gesessen. Das ist kein Müll, sondern war Teil des Lebens der Menschen |Foto (C) Annett Baumgartner
|
Helga Fitzner - 21. Dezember 2021 ID 13369
12,50 € pro verkauftem Bildband kommt den Betroffenen zu.
Annett Baumgartner stand uns für ein Interview zur Verfügung.
Weitere Infos siehe auch: https://www.annett-baumgartner.de/shop
Post an Helga Fitzner
Buchkritiken
Interviews
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeige:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
AUTORENLESUNGEN
BUCHKRITIKEN
DEBATTEN
ETYMOLOGISCHES von Professor Gutknecht
INTERVIEWS
KURZGESCHICHTEN- WETTBEWERB [Archiv]
LESEN IM URLAUB
PORTRÄTS Autoren, Bibliotheken, Verlage
UNSERE NEUE GESCHICHTE
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|