40.000
Hühner
und ein
Stall
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Bewertung:
Wenn Politiker ein Buch schreiben, so ist dies oft eine Biografie, die den Blick in die Arbeit des Betreffenden ermöglicht. Man lernt den Menschen hinter der Funktion kennen, seine Gedankenwelt, Motivation, Ziele und seinen Umgang mit Amtskollegen. In der Fleischfabrik Deutschland gelangt der Blick dagegen in industrielle Ställe, in denen bis zu 40.000 Tiere leben, und wir lernen die Nutztierschlachtung kennen, bei der 450 Tiere pro Minute getötet werden können.
Autor des Buches ist Dr. Anton Hofreiter, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag. Anders als in der Politik üblich, führt er als Autor hier seinen Doktortitel an. Hofreiter schreibt das Buch als Wissenschaftler, als promovierter Biologe und Experte auf dem Gebiet der Landwirtschaft. Sorgfältig hat er Zahlen zusammengetragen. So werden pro Jahr bei uns gut 59 Millionen Schweine, 3,5 Millionen Rinder und 716 Millionen Hühner, Puten und Enten geschlachtet, pro Einwohner in Deutschland sind dies zehn Tiere.
„Mit jährlich mehr als 5,5 Millionen Tonnen sind wir nach China und den USA der drittgrößte Schweinefleischproduzent der Welt – und damit gewissermaßen Europameister im Schweineschlachten.“ (S. 24)
Diese Fleischmengen decken sogar mehr als unseren Eigenbedarf und führen zum Export. In Afrika machen billige deutsche Hähnchenteile die heimischen Märkte kaputt. Das sind weitreichende Konsequenzen, die auf den ersten Blick aus den Zahlen nicht hervorgehen. Beispiel Sojaanbau für unseren Futtermittelmarkt: Um unsere Nutztiere ausreichend mästen zu können, reichen unsere Agrarflächen nicht aus.
„Allein in Brasilien – dem unangefochtenen Hauptlieferanten für unser Soja – belegen wir eine Fläche so groß wie Schleswig-Holstein (1,6 Millionen Hektar)…" (S. 101)
Dieses Futter steht den Bauern vor Ort nicht mehr zur Verfügung. Der Begriff Massentierhaltung wird in seinen verschiedenen Facetten gezeigt. Um die Unmengen an Tieren überhaupt schnell genug schlachten zu können, teilen sich diese Aufgabe weitgehend vier Großschlachtereien. Das Vieh wird nicht mehr in der Nähe seiner Ställe getötet, sondern durch halb Deutschland gekarrt, da die kleinen Schlachthöfe, die es früher in fast jeder größeren Stadt gab, ausgestorben sind.
Wir erfahren, warum Schweine ihre Ringelschwänze verlieren und Ferkel meist bei vollem Bewusstsein kastriert werden. Hühnern wird ein Teil des Schnabels amputiert, da die gestressten Tiere sich sonst untereinander gegenseitig verletzen. Bei 40.000 Tieren in einem Stall wundert dies nicht. Jedem Masthuhn wird gerade mal 0,043 Quadratmeter Bodenfläche zugestanden. Gegen Krankheiten gibt es Antibiotika in großem Umfang, mit dem Risiko, dass diese Waffe stumpf wird, sprich die Erreger nicht mehr darauf reagieren, was auch für den Menschen zur Gefahr werden kann. Darüber hinaus belastet die Gülle aus Massentierhaltung unser Trinkwasser.
Soweit liefert die erste Hälfte des Buches wertvolle Informationen, die den eigenen Umgang mit dem Lebensmittel Fleisch und auch die Tragweite der modernen Tierhaltung anschaulich machen. Zudem dürfen wir uns die Frage stellen, ob ein so reiches Land wie Deutschland tatsächlich Tiere unter solchen Bedingungen züchten sollte. Keines dieser Masttiere wird in seinem kurzen Leben das Tageslicht sehen.
Im Tierschutzgesetz § 1 heißt es:
„Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schaden zufügen.“ (S. 30)
Gilt hier die Massentierhaltung als vernünftiger Grund? Für den Grünenpolitiker Anton Hofreiter sicher nicht. Und hier liegt die Krux im Buch. Natürlich wird ein Grüner Fakten anders interpretieren als ein CSU-Kandidat. Das ist legitim und auch von vornherein offengelegt. Problematisch ist, dass die zweite Hälfte des Buches die Überzeugungen und Ziele Hofreiters schildert. Da verlässt er die Sachbuchebene und schreibt als Fraktionsvorsitzender weiter. Natürlich darf er das - nur möchte ich für ein pateipolitisches Thesenpapier nicht knapp zwanzig Euro bezahlen. Zudem kommt es im zweiten Teil des Buches zu häufigen Wiederholungen, die anfangs interessanten Zahlen und Sachverhalte werden totgeredet. Die zitierten Fakten sind durch einen Quellennachweis belegt, dieser nennt jedoch nur die entsprechenden Kapitel, jedoch nicht Seite noch Zeile. So ist das Buch in dieser Hinsicht unübersichtlich und schwammig.
Wer sich einen Überblick über die moderne Massentierhaltung in unserem Land verschaffen möchte, bekommt diesen geboten. Hofreiter nennt zudem anschauliche Beispiele und macht die Lektüre, angereichert mit Grafiken, leicht. Dennoch bleibt die Frage, ob ein solches Buch eines Politikers überhaupt Geld kosten darf und wenn ja, wie viel? Passend zur Bundestagswahl erscheint es Mitte September als kostengünstiges Taschenbuch.
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Ellen Norten - 4. Juli 2017 ID 10125
Dr. Anton Hofreiter | Fleischfabrik Deutschland
Wie die Massentierhaltung unsere Lebensgrundlagen zerstört und was wir dagegen tun können
Geb., 256 S.
EUR 19,99 (DE) | 20,60 (A)
Riemann Verlag, 2016
ISBN 978-3-570-522-0
https://www.randomhouse.de/Buch/Fleischfabrik-Deutschland/Anton-Hofreiter/Riemann/e495728.rhd
Post an Dr. Ellen Norten
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