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Bewertung:
„Es sollten natürlich dieselben Gesetze sein – ein Planet sollte eine Sonne mehr oder weniger so umkreisen, wie ein Elektron einen Nukleus umkreist. Aber nein. Weit gefehlt! Barrett ist jedoch, zu seinem Bedauern, kein Physiker. Diese spezielle Begabung fehlt ihm.“
(Michael Cunningham, Die Schneekönigin, S. 121/122)
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Es sind myriadenhafte Gedanken, in denen die Protagonisten im Roman Die Schneekönigin die großen Fragen des Lebens zu stellen versuchen: nach Sinn oder Unsinn, Erfolg oder Misserfolg und der Verantwortung für sich selbst und für andere. Dabei verlieren sich die Gedankengänge leider allzu oft im Grenzenlosen, was auch den Lesefluss das eine oder andere Mal stocken lässt. Der US-amerikanische Schriftsteller Michael Cunningham erhielt für The Hours (1998), eine Hommage an die bedeutende britische Schriftstellerin Virginia Woolf und ihren Roman Mrs. Dalloway (1925), den Pulitzerpreis und den Pen/ Faulkner-Award. Auch er arbeitet wie Woolf in seinen Werken mit Bewusstseinsströmungen im Sinne einer Bewusstseinserweiterung und Bewusstseinserhellung. Anders als sein letztes vieldeutiges, packendes und einfühlsames Werk By Nightfall (2010) ist The Snow Queen (2015) auch aufgrund langatmiger Parallelebenen und unmotiviert auftauchender Grundsatzfragen weniger eingängig und aufregend. Doch auch in Die Schneekönigin gibt es poetische Spannungsmomente, und die eigentliche Handlung ist alles andere als trivial:
Barrett lebt mit seinem wenig älterer Bruder Tyler und dessen großer Liebe Beth in einer kleinen Wohnung im New Yorker Stadtteil Bushwick. Die Mieten sind hier für die drei beruflich nur mäßig eingebundenen Mittvierziger bezahlbar. Beth ist unheilbar an Krebs erkrankt, und beide kümmern sich um sie auf ihre Art. Beth selbst findet sich allmählich mit ihrer Krankheit ab, macht nicht viel Aufhebens um sie, und ihre geistig und körperlich nur eingeschränkte Präsenz dient auch als Bindeglied zwischen den beiden Brüdern: „Beth streicht Barrett sanft über den Nacken. Sie ist mit ihm genauso verheiratet wie mit Tyler – der Beweis liegt in einer Geste wie dieser.“ (S. 124) Aufgrund von Beth Krankheit kreisen die Gedanken der Protagonisten jedoch auch beim bloßen Betrachten der tristen, aber nicht ganz trostlosen Umwelt pathetisch um die Endlichkeit allen Seins:
„Selbst im Aufwachzustand wirkt Williamsburg durch den Schnee befriedet, verschleiert und gedämpft, gedemütigt durch den Beweis, dass sich auch eine Megalopolis der Natur unterwerfen muss; dass diese riesige, lärmende Stadt auf derselben Erde steht, die die Menschheit seit Jahrtausenden zu Opfern und Kriegern und zum Bau von Tempeln inspiriert hat, um eine Gottheit zu besänftigen, die das Ganze mit einem einzigen Streich ihrer titanischen Hand auslöschen könnte, jederzeit.“ (S. 95)
Barrett und Tyler befinden sich fortwährend in einem Wartezustand, der sich in eigenbrötlerischen und skurrilen Gedankenwelten der Brüder spiegelt. Barrett phantasiert sich auch während seiner beruflichen Tätigkeit als Verkäufer in einer Secondhand-Designer-Boutique in eine geistige Parallelwelt:
„Das ist Barretts Vergnügen; sein liebster Zeitvertreib. Sein verrücktes Projekt Weltformel. Er hat in Gedanken ein Sammelalbum angelegt, einen imaginierten Stammbaum, der nicht seine Familie abbildet, sondern Ereignisse und Umstände und Zustände der Sehnsucht. Bei Madame Bovary fängt er nur deshalb an, weil das sein Lieblingsroman ist. Weil man irgendwo anfangen muss. Das Ganze führt natürlich nirgendwohin. Er erreicht nichts damit." (Seite 104)
Tyler hingegen nimmt Kokain und andere harte Drogen. Der erfolglose Musiker ist oft allgemein wütend auf die Gesellschaft und ihre Repräsentanten wie Präsident George W. Bush. Beth vermag mit ihrem sanften Wesen seine sinnlose Wut zu bändigen, jedoch ohne ihn von seinen Gedanken abbringen zu können:
“Tyler nickt. Er wird nicht damit anfangen. Nicht heute Abend. Keine Abhandlungen über geheime CIA-Gefängnisse in Polen und Rumänien, über das unbefugte Abhören von Telefongesprächen oder über Bush, der mittlerweile persönlich zugegeben hat, dass seit dem Beginn des Krieges dreißigtausend irakische Zivilisten ums Leben gekommen sind. Ja genau, ein Krieg gegen ein Land, das die USA nicht einmal angegriffen hat.“ (S. 155)
Tyler und Barrett sind mit Beths langsamen Sterben und dem Verantwortungsgefühl für sie und füreinander konfrontiert. Gleichzeitig haben beide eine Sehnsucht nach Geborgenheit und warten auf eine neue Perspektive, sei es beruflich oder privat. Spannungsmomente gibt es im Roman insbesondere wenn andere Charaktere auf der Spielfläche erscheinen und plötzlich neue Wünsche auslösen. So spürt der schwule Single Barrett ein maßloses Begehren, als der Freund einer Arbeitskollegin bei ihm an die Tür klopft:
„Gilt für alle Verliebten, dass sie glauben, die anderen könnten ihre Gedanken lesen? Wahrscheinlich. Denn wie sollte ein derartiger Aufruhr aus Hoffnung und Angst und Lust überhörbar sein? Wie schafft der Schädel es, nichts nach außen dringen zu lassen?“ (S. 134)
Im Zentrum der Handlung steht jedoch die Endlichkeit des Lebens, plötzlich und ohne dass die Figuren selbst ihre Erfüllung gefunden oder etwas Maßgebliches erreicht haben. Das Sterben von Beth ändert nicht nur die enge Beziehung zwischen den beiden Brüdern, sondern auch ihre Wahrnehmung der sie unmittelbar umgebenden Räumlichkeiten:
„Beths Sterben, die Vorstellung, dass es hier geschehen könnte, hatte einen Bann auf das Zimmer gelegt, aber nun sind die stummen Bewohner, die Stühle und Lampen und schuppigen Lederkoffer, nur noch Objekte, die nach einer kurzen Phase der Verzauberung, zurück im Reich des Banalen, geduldig das Ende der Welt erwarten.“ (S. 135)
Es fordert einiges an Einfühlungsvermögen, sich auf die ungefilterten Bewusstseinsströme der Protagonisten einzulassen, da diese sich oft auch in Nebenschauplätzen oder Erdachtem und Erträumten verlieren. Gleichzeitig scheinen immer wieder pointierte Entwicklungen auf, etwa wenn plötzliche Zeitsprünge Spannung erzeugen, weil sich nun die Konstellation der Protagonisten geändert hat. Intertextuelle Andeutungen und Anspielungen auf das politische Geschehen zur Entstehungszeit des Romans ermüden recht schnell, während hingegen poetische Details und Bilder plötzlich sublime Suspense zu erzeugen vermögen.
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Ansgar Skoda - 30. Juni 2016 ID 9410
Michael Cunningham | Die Schneekönigin
Geb. m. Schutzumschlag
286 Seiten
€ 21,99 [D] | € 22,70 [A] | CHF 29,90
Luchterhand Literaturverlag
ISBN: 978-3-630-87458-6
Weitere Infos siehe auch: http://www.randomhouse.de/Buch/Die-Schneekoenigin/Michael-Cunningham/e457457.rhd
Post an Ansgar Skoda
http://www.ansgar-skoda.de
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