Nachgetragene
Liebe
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Bewertung:
Der Tod lässt uns die Hände vors Gesicht schlagen. Die Trauernden können den Anblick der Welt, die sich von ihrer scheußlichen Seite zeigt, nicht ertragen. Die Hinterbliebenen starren auf eine Fratze, die ihnen den ganzen Irrsinn des Lebens vor Augen führt. Der Tod eines geliebten Menschen lässt uns erblinden. Der Tod ist ein Sehverlust.
Auch die Erzählerin in Esther Kinskys Roman Hain ist blind vor Untröstlichkeit. Sie trauert um ihren jüngst verstorbenen Ehemann. Gleichzeitig versetzt sie die Trauer zurück in die Zeit ihrer Kindheit, als ihr Vater sie lehrte, die Welt genau in Augenschein zu nehmen. Nun wird das Gesicht des Verstorbenen zur Matrix, die all das widerspiegelt, was die Erzählerin in der Welt nicht mehr sehen kann. Gleichzeitig will sie diese Blindheit nicht akzeptieren. Und so beginnt ihre poetische Trauerarbeit, die schmerzhafte Zurückgewinnung der Sichtbarkeit der Welt. Daher reist sie auf den Spuren ihrer Kindheit durch Italien, wo sie prägende Tage mit ihrem Vater verbrachte. Es ist der Roman einer nachgetragenen Liebe.
Esther Kinsky nennt ihn „Geländeroman“. Tatsächlich erkundet die Autorin ein Gelände, sofern dieses Wort keine Landschaft bezeichnet, die man passiv zur Kenntnis nimmt, sondern die Zumutungen der Welt, die man sich wie ein Wanderer erarbeiten muss. So wird dieser Roman zu einem poetischen Reiseführer durch ein unwirtliches Italien, das sich dem fremden Auge zunächst mehr verschließt als öffnet: Olevano Romano etwa, die unscheinbare Stadt an den Hügelzügen nordöstlich von Rom. Oder Valli di Comacchio, ein Landstrich im Delta des Po, ein unwirkliches Gelände, ein wahrhaftiges Seeland, halb unterspült vom Wasser und doch voller blühender Äcker.
Man muss die außergewöhnliche poetische Qualität dieses Romans hervorheben. Auf der Suche nach der verlorenen Welt nähert sich die Erzählerin der inneren Ordnung der Dinge. Dabei finden sich Sätze, die in ihrer Anmut beeindrucken. Hier benennt eine bemerkenswerte Dichterin ihre Welt. Ohne Großspurigkeit und Attitüde. Mit einer seltenen stilistischen Präzision. Die Trauernde entdeckt auf ihren Streifzügen durch Italien eine magische Wirklichkeit und wie sich Wasser und Erde im Valli di Comacchio durchmischen, so verbindet sich ihre Trauer mit Erinnerungen an ihre lichte Kindheit.
Esther Kinsky rehablitiert auf eigene Weise die scheußliche Fratze der Welt. Dabei geht sie schonungslos vor und bietet dem Leser keinen einfachen Trost. Wer sich auf ihr poetisches Gelände begibt, sollte beherzt vorangehen und eine gewisse Zähigkeit besitzen. Vor allem muss man wissen, was einen erwartet. Den Tod wird man überall finden. Vielleicht aber auch etwas, das besser ist.
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Jo Balle - 15. Februar 2018 ID 10516
Link zum Buch: http://www.suhrkamp.de/buecher/hain-esther_kinsky_42789.html
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