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Buchkritik

Luftfahrt

und

Liebes-

verlust



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Natürlich geht es immer nur darum, mit Verlusten zu leben. Jeder weiß das. Das ganze Leben ist ein Verlustgeschäft. Eine Binsenweisheit, dies. Aber an diesem pessimistischen Diktum scheiden sich auch die Geister. Schließlich gibt es jede Menge zu gewinnen, hienieden. Allenthalben stehen uns Möglichkeiten offen. Man muss nur wollen, so der propere Volksmund.

Alles soweit richtig. Wer aber Julian Barnes' Lebensstufen liest, muss einräumen, dass für denjenigen, der seine Liebe verlor, nichts Gültiges mehr bleibt. Eine subversive Haltung, die dem Zeitgeist zuwiderläuft. Nicht zu verwechseln jedoch mit Defätismus! Julian Barnes versucht eine Erkenntnis zu formulieren, die zu dem Besten gehört, was das Menschengschlecht zu bieten hat.

Man könnte diese Idee "romantisch" nennen. Sofern mit diesem Begriff gemeint ist, dass Individuen in einen zeitübergreifenden mentalen Zustand geraten können, in denen ihre Identität, vor allem: deren Möglichkeitsraum durch die geliebte Person vollständig gesättigt wird. Auch über dessen Verlust hinaus. In der natürlichen Trennung zwischen Personen und durch die Überwindung derselben finden sich die Liebenden hierbei in den Geliebten wieder.

Der meisterliche Philosoph Schelling beschrieb es so: "Dies ist das Geheimnis der Liebe, dass sie solche verbinde, deren jedes für sich sein könnte und doch nichts ist und sein kann ohne das andere." Wenn man in dieser Weise liebt, dann geht es um die ganze Existenz und nicht um die psychische Aufarbeitung einer Verlusterfahrung oder um die Unfähigkeit, alleine zu leben. Sind diese Bedingungen erfüllt, so könnte man mit Schelling dann die folgende Konsequenz daraus ziehen: "Die Erregung des Eigenwillens geschieht nur, damit die Liebe im Menschen einen Stoff oder Gegensatz finde, darin sie sich verwirkliche." Und damit bleibt, bei Lichte betrachtet, keine Eigenliebe im Wortsinn mehr übrig - oder sagen wir: lediglich eine Eigenliebe zweiter Stufe, die sich im Anderen verliert und wiederfindet und sich selbst dadurch transzendiert.

Es ist diese Liebesdialektik, die wohl jeder in gewisser Weise kennt, zumeist aber nur als punktuelle Selbstaufgabe, will sagen: als Intuition sich im Geliebten wiederzufinden, und die sich irgendwann wieder verflüchtigt. Zuweilen aber ist es mehr als ein Augenblicksgeschehen. Bleibt der produktive Selbstverlust über die Zeit erhalten, nun: Dann ist es das, wovon Barnes hier erzählt.

Ein Wunder, dass dieser Autor eine Sprache finden konnte, um diese besondere Beständigkeit der Identität über Bande zu beschreiben, die offenbar nicht jedermanns Sache ist. Barnes verlor vor Jahren seine Frau, mit der er dreißig Jahre lang zusammen war. Das Buch ist das Zeugnis einer immensen Trauerarbeit, aber darüber hinaus ist es ein erstaunliches Dokument der essayistischen Kunst von Barnes. Dieser Autor beherrscht diese Gattung auf so grandiose Weise, dass links und rechts von ihm die Luft sehr dünn wird. Vielleicht vermochte in unseren Tagen der große Harold Brodkey auf diese Weise "denkend" zu erzählen. Darin, in diesem anschaulichen Denken, liegt nicht nur eine große Kunstfertigkeit, sondern vor allem eine stupende Weltkenntnis.

Wenn Barnes etwa über die Pioniere der Luftfahrt, genauerhin des Ballonfluges, Felix Tournachon, genannt Nadar, Fred Burnaby oder Sarah Bernhardt, nachsinnt, so zeigt sich hierin eine leichthin flatternde Kunst der Schilderung, wobei er seine Reflexionen mit einer intellektuellen Anschaulichkeit tränkt, durch die uns die überraschenden Verbindungslinien mit dem Motiv des Liebesverlustes auf elegante Weise aufleuchten. Nadar, der bei einem Flug über Paris 1858 die ersten Fotografien der Welt von oben machte, wird damit ebenso zum Protagonisten der romantischen Liebe wie Sarah Bernhardt, die im Champagnerrausch durch die Lüfte schwebte.

Man will nicht zu viel über dieses schmale Buch sagen. Weil es mehr ist, als der Rezensent auszusprechen vermag. Weil es sich nicht einfangen lässt durch dürre Worte. Lebensstufen erzeugt als literarischer Essay eine existentielle Grundstimmung im Sinne Martin Heideggers, durch die wir uns und die Welt besser verstehen lernen. Was will man von einem Buch mehr erwarten?
Jo Balle - 7. April 2015
ID 8555
Julian Barnes | Lebensstufen
144 S., geb.
16,99 € (D) | 17,50 € (A)
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2015
ISBN 978-3-462-04727-1


Weitere Infos siehe auch: http://www.kiwi-verlag.de/buch/lebensstufen/978-3-462-04727-1/


Post an Dr. Johannes Balle



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